Werdet nicht Lehrer.

Ich erinnere mich an das Ende meines Referendariats. Mein Fachleiter empfahl mir, einen kleinen Vortrag vor den Lehramtsstudenten zu halten, die kurz vor dem Abschluss ihres Studiums standen und einen kleinen Einblick in das Leben eines frischgebackenen Lehrers bekommen sollten. Die Dozentin, die das Seminar leitete, drängte mich im Vorfeld, besonders herauszustellen, wie anspruchsvoll und belastend der Lehrerberuf sei. Damit war sie ganz nah dran am öffentlichen Diskurs, der ja auch keinen Beitrag über den Lehrerberuf liefern konnte, ohne auf die hohe Burn-out-Rate unter Lehrern hinzuweisen. Und das flankiert von der unseligen Rauin-Studie, zu der ich hier schon genug geschrieben habe. „Werdet nicht Lehrer“, so musste man das Konzert der Kritiker wohl verstehen.

Ich habe mich damals sehr dagegen gewehrt, weil ich diese Botschaft für falsch hielt und immer noch halte. Aber wenn das umgesetzt wird, was nach den jetzigen Berichten die Vorstellungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) sind, dann werde ich meine Meinung ändern müssen.

Was sind das für Vorschläge? Schlicht: Nicht nur gute! Ich beziehe nun auf den Artikel „Lehrermangel: Empfehlungen der SWK bedeuten Mehrbelastung für Lehrer“ (Paywall) von Heike Schmoll in der FAZ und das Dokument der SWK. Spoiler: Keine der Lösungen lautet: Mehr Geld, mehr Zeit oder Entschlackung von Aufgaben.

Zunächst empfiehlt man „den Ausbau von Initiativen zur Beschäftigung von Lehrkräften im Ruhestand“. Das ist durchaus lobenswert, denn wenn Kolleginnen freiwillig über die Altersgrenze hinaus arbeiten wollen und sich das geistig und körperlich zutrauen, ist dagegen nichts einzuwenden. Die Erleichterung der Anerkennung ausländischer Lehrkräfte ist ebenso ein richtiger Schritt wie die Nachqualifizierung von Lehrkräften in Mangelfächern. Bedenklich ist allerdings die damit einhergehende fachliche Entwertung des Unterrichts, sei es sprachlich oder fachlich. (Ich selbst bin ein solcher Nachqualifizierter im Fach Informatik und kann einem ausgebildeten Informatiker bei weitem nicht das Wasser reichen). Der Quereinstieg als Reservoir für Top-Leute sollte dringend gestärkt werden.

Damit ist der positive Teil dann auch im Wesentlichen abgearbeitet. Teilzeit? Ein Ärgernis! Die SWK empfiehlt, „die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit [insbes. auf unter 50%, Anm. d. A.] zu begrenzen“, dazu „flankierende Maßnahmen wie Kinderbetreuung, Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge […] und eine Unterstützung der Lehrkräfte im Unterricht […]) auszubauen“ und ansonsten „eine maßvolle Aufstockung“. Sabbatmodelle möchte man befristet einschränken. Ich brettere ja Vollzeit, aber ich weiß, dass alle Kolleg:innen gute Gründe für ihre Teilzeitentscheidung haben, seien es eigene Kinder, pflegebedürftige Eltern, das harte Single-Mom-Dasein oder schlicht die Hoffnung, mit 75% doch die 100% Anforderung bewältigen zu können. Denn machen wir uns nichts vor: Die meisten Teilzeitkräfte stecken, dank Konferenzen, Elterngesprächen, Arbeitsgruppen, Korrekturen usw. mehr Zeit ins System als die Reduktion auf dem Papier vorgibt. Weniger Teilzeit macht den Lehrerberuf nicht attraktiver.

Laute Alarmglocken schrillen bei dem Wort „Vorgriffsstunden“. Auch das schlägt die SWK vor, und das heißt nichts anderes, als dass alle für ein paar Jahre eine sogenannte „Vorgriffsstunde“ mehr arbeiten müssen, die dann irgendwann, vielleicht, eventuell wieder abgebaut werden kann. Das ist aber sehr unwahrscheinlich, wie die SWK selbst feststellt: „Einschränkend sieht die SWK aber, dass der anhaltende Lehrkräftemangel es in den kommenden 20 Jahren schwer machen wird, Vorgriffsstunden durch Deputatsreduktion auszugleichen, weshalb die finanzielle Abgeltung realistischer zu sein scheint.“ Nennen wir es also lieber bei der Wahrheit: Erhöhung des Stundendeputats.

Nach den Berichten der letzten Wochen ist es nicht verwunderlich, dass die SWK über befristete Abordnungen an andere Dienststellen und auch an andere Schularten nachdenkt. So könnten Gymnasiallehrer demnächst an Grundschulen eingesetzt werden, für die sie in keiner Weise ausgebildet sind und dafür unter Umständen weite Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen. Welche Auswirkungen das auf die Motivation sowie die Qualität des Grundschulunterrichts haben wird, wird uns die OECD schonungslos vor Augen halten.

Auch die unmittelbare Qualität des Unterrichts bleibt nicht unangetastet. Die SWK stellt sich vor, dass Lehrkräfte zukünftig auch ohne Quarantäne ganz regulär Hybridunterricht machen: In der Oberstufe sollen dann Kurse vor Ort unterrichtet werden, während andere Kurse per Videokonferenz zugeschaltet werden. Dazu fahren die Lehrer mal an die eine, mal an die andere Schule und unterrichten abwechselnd beide Kurse vor Ort und per Video. Das spart Lehrerstellen und mindert Motivation, Qualität des Unterrichts und die Gleichbehandlung der Schüler drastisch.

Zudem sollen sogenannte „Selbstlernzeiten“ erhöht werden. Schüler*innen sollen sich „Themen zunächst über geeignete Video-, Audio- oder Textmaterialien selbstständig und im eigenen Tempo aneignen“ und im Präsenzunterricht nur noch Verständnisfragen klären sowie vertiefen. Die Idee ist ja immer toll, aber wann und wo eignen sich die Schüler_innen das alles an? Wer bietet ihnen ruhige Orte? Oder soll das alles zuhause stattfinden? Wie das, wenn doch der Ganztag ausgebaut werden soll und Hausaufgaben am Nachmittag nicht erlaubt (und irgendwann auch schlicht kontraproduktiv) sind? Wer kümmert sich um die SchülerInnen, die damit ganz sicher überfordert sind? Was die Damen und Herren Professoren da vorschlagen, ist nichts anderes als ein Rezept, um die schon weit geöffnete Bildungsschere erst richtig weit aufzureißen!

Was für mich dann dem Fass den Boden ausschlägt, ist die schon vorweggenommene Schuldzuweisung und Geringschätzung, die sich hinter dem Punkt „Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung“ verbirgt, womit man keine eigentlichen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung meint, sondern diesen ganzen Pseudo-Resilienzquatsch. „Achtsamkeitstraining“ empfiehlt man den Lehrerinnen – die überforderten Lehrkräfte sind schlussendlich also selbst schuld, wenn sie ausbrennen. Da haben sie halt nicht genug auf sich selbst geachtet, was soll man nur machen? Auch ein „Kompetenztrainig“ wird vorgeschlagen, damit diese inkompetenten Subjekte endlich (endlich!) lernen, mit Unterrichtsstörungen angemessen umzugehen. Damit das richtig gut klappt, setzt man fürsorglich unter dem Schlagwort „eMental-Health“ auf „[v]ideobasierte Trainingsformate“. Dazu informiertes Geschwätz zur „Gesundheitsförderung als Organisationsaufgabe“. Man kann sich nur vorstellen, dass dieser ganze Wischiwaschi-Gesundheitsquatsch der Gewissensberuhigung dient, wo die SWK sich gerade ganz handfest anschickt, mit ihrem Vorschläge-Würgegriff auch die letzte Luft aus dem Lehrkörper herauszupressen.

Werdet nicht Lehrer. Der Burn-out ist euch sicher, denn dass sich schnell etwas bessert, daran glaubt die auch SWK nicht: „Das Problem des Lehrkräftemangels wird aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben.“

Warum Lehrkräfte aussteigen

Heute morgen einen Podcast von „SWR 2 Wissen“ gehört, der die Problematik der Lehrerarbeitszeit auf den Kopf trifft:

Im Kern geht es darum, warum Lehrer aussteigen und welche Hindernisse man (verbeamteten) Lehrern dabei in den Weg legt. Schon die erste Minute möchte man nur „ja!“ schreien. Mein Lieblingszitat: „Lernen wir auch noch oder geht es die ganze Zeit um das Verwalten von Leistung?“ Auch den Gedanken „Ich habe mich dafür entschieden, Lehrer zu sein und kein Verwaltungsbeamter“ hatte ich schon so oft und dieses ständige (und immer weiter anwachsende) Herumverwalten vergällt mir immer mehr die Freude am Beruf.

Positiv wird die Villa Wewersbusch erwähnt, das merke ich hier einmal an, weil die in meiner damaligen Twitter-Bubble doch immer (auch von mir) eher kritisch beäugt wurde. Zum Thema Lehrerarbeitszeit hat Herr Rau erst kürzlich einen langen Beitrag verfasst.

Mehr Wertschätzung könnte helfen

Ach wie, herrscht etwa ein sogenannter „Lehrermangel“? Allerorten Gejammer um zu wenig Lehrer. Ich suche jetzt nicht die im dutzend täglich neu erscheinenden Artikel heraus, es reicht, wenn man diesen beispielhaft nimmt: „Sachsen-Anhalt findet 75 neue Lehrkräfte – per Headhunter. (…und will künftig weltweit suchen lassen)“. In Berlin verbeamtet man wieder. Woanders gleicht man gar die Gehaltsstufen aller Lehrer auf A13 an. Shocking! Wie konnte es nur so weit kommen?

Da lobe ich mir mein kleines Blog, schaue ein paar Jahre zurück und stoße auf Diskurse, in denen Lehramtsstudierende als faules und inkompetentes Pack dargestellt wurden. Auslöser war die Rauin-Studie, die durch alle Medien hoch und runter gejazzt wurde. Daneben immer wieder „Studien“, die zeigen sollten, wie unfair und biased Lehrer sind; mit Bachelorarbeiten zu Vornamensstudien könnten wir problemlos den Reichstag verhüllen. Und dann jammern die faulen Säcke auch noch andauernd, sodass es kaum wundert, dass eine Lehrerhasserin zur Bestsellerautorin werden konnte. Wen wundert’s, dass unter jungen Menschen niemand Lust hat, in den Olymp der Inkompetenz, Faulheit, Unfairness und Charakterlosigkeit aufzusteigen?

„Mehr Wertschätzung könnte helfen“, sagt Oliver Welke in der heute-show vom 16.9.

Da mag er Recht haben.

Alte Männer vermissen ihre alte Welt

Ich hab’s ja gestern schon öffentlich zugegeben: Ich alter Mann vermisse die gute alte Blogosphäre aus den 2000ern. Aber ich bin auch selbst schuld, gell? Zu lange auf Twitter herumgehockt, in ruheloser Frequenz sinnlose Einzeiler gepostet und das Bloggen vernachlässigt. Aber hätte es etwas geändert, wenn ich fleißig durchgebloggt hätte? Natürlich nicht. Niemand kann derartig mächtige gesellschaftliche Entwicklungen im Alleingang aufhalten. Die Welt und die Menschen in ihr verändern sich; man kann sich dem Wandel entgegenstemmen und daran zerbrechen oder man lernt, sich anzupassen. Das nennt man Evolution und ist das jahrmillionenalte Erfolgsrezept fürs Überleben auf unserem gesamten Planeten.

Und so ich kann ich es ein Stück weit verstehen, wenn heute zwei ältere Männer ihrer guten alten Welt nachjammern. Da hätten wir einerseits Jürgen Kaube aus der FAZ, der sich anlässlich der Streichung des „Faust“ aus dem bayerischen Abitur bitterlich über den heutigen Literaturunterricht beschwert. Quintessenz: Man lese lächerlich wenig an deutschen Schulen, fünf Ganzschriften seien zu wenig, denn einzelne Werke müssten den gesamten Kanon repräsentieren. In den Kommentaren tobt der Mob, man könnte fast glauben, in Bayern wäre eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen eingeführt worden.

Milchmädchen

Kein Faust mehr! Der Autor bedauert: „So war „Faust“ seit 2016 Pflichtstoff an bayerischen Gymnasien, war bis 2019 in Nordrhein-Westfalen obligatorisch, ist es noch in Hessen und Schleswig-Holstein.“ Richtig. Seit 2021 gibt es in NRW keinen Faust mehr. Obligatorisch war der „Faust“ aber auch davor in NRW nicht immer. In den ersten Jahren des Zentralabiturs gab es in NRW keinen „Faust“ – stattdessen: Schillers „Don Karlos“ oder Büchners „Dantons Tod“. Warum auch nicht?

Ich fände es auch recht unterhaltsam, den Autor dabei zu beobachten, wie es ihm gelingt, mehr als fünf Lektüren im Unterricht erschöpfend (denn das dürfte ja sein Anspruch sein) zu behandeln. In seinem Text rechnet er sich aus, wie wenig deutsche Schüler zu lesen angehalten seien (nur 27 Seiten beim Faust! Nur fünf Ganzschriften in zwei Jahren!), denn beim bloßen Durchlesen wird es ja nicht bleiben können. Vergessen wird auch, dass das letzte Halbjahr zum einen der Wiederholung des zuvor Erarbeiteten, aber eben auch der ganz praktischen Abiturdurchführung gilt. Dabei ist es zumindest in NRW immer so, dass das erste Halbjahr für die Abiturienten direkt vor Weihnachten endet, womit der Zeitrahmen enger bemessen ist als bei Schülern der Sekundarstufe I. Denn neben dem reinem Lesen von epischen und dramatischen Ganzschriften sollen Schüler gewiss auch die Lyrik ausgiebig analysieren sowie sprachliche und methodische Kompetenzen vertiefen, die eigene Schreibkompetenz stärken und verbessern, die Medienkompetenz ausbauen (siehe unten) und ferner Sprachgeschichte und Sprachwandel (wahlweise auch die Sapir-Whorf-Hypothese, Sprachskepsis oder Sprachentstehungstheorien) verstehen lernen, nebst Filmanalyse und Bühneninszenierung. Dabei haben unsere Oberstufenschüler oft Tage, die sich von morgens früh bis abends spät um 17.00 Uhr erstrecken, dazu noch der Heimweg, Hausaufgaben, Lernaufgaben, Pause? Von den anderen Fächern haben wir dann noch gar nicht gesprochen, auch die verlangen übrigens das Lesen von Ganzschriften (deren Seitenzahlen darf der mathematisch gewiefte Herr Kaube gerne aufs Lesepensum hinzuaddieren) und in sachkundlichen Fächern lesen wir zwar keine Ganzschriften, aber ein Geschichtsbuch hat schon ziemlich viele lang(weilig)e Texte, die gelesen werden müssen. Eine Milchmädchenrechnung eines Mannes, der nebst seinen Claqueuren einer Zeit hinterhertrauert, die es in ihrer reinen Romantik vermutlich nie gegeben hat.

Wir dreschen uns zu Tode

Der andere Herr, es ist Klaus Zierer, meldet sich im Spiegel Online zu Wort und beweist seine Schlagzeilenkompetenz: „Wir wischen uns zu Tode“ lautet der dramatische Titel seines Meinungsartikels. Zierer nutzt so in Titel und Text den tragischen Tod eines achtjährigen Mädchens aufgrund einer TikTok-Challenge als Aufhänger, um seine dann recht unspektakuläre medienskeptische Sicht zu verbreiten.

So richtig mag ihm das allerdings nicht gelingen, stattdessen drischt er ein totes Pferd. Kritik wie gehabt: Alle seien viel zu naiv im Umgang mit digitalen Medien. Es benennt reichlich bekannte Probleme (z. B. Cybermobbing, Ablenkungspotenzial) und verweist auf Probleme beim Lernen und Lesen, verlinkt dazu dann aber einen Artikel, der zeigt, dass diese coronabedingt sind. Nun ja, jeder belegt so gut er kann.

Um Allgemeinplätze ist er nicht verlegen. Man stelle sich im Folgenden einen Lehrer-Lämpel-Zeigefinger vor: „Schlechter Unterricht wird durch digitale Medien nicht besser, nur guter Unterricht kann davon profitieren.“ Medienerziehung ist nun sein Stichwort! Und nun stirbt das tote Pferd mit jedem Absatz ein wenig mehr. Man mag es kaum zitieren, aber: „Wer aber aus Bequemlichkeit Elternabende nur noch digital veranstaltet, mit der Freundin ein paar Häuser weiter stundenlang chattet, anstatt sie zu besuchen, und sich über Politik ausschließlich in den sozialen Medien informiert und keine Zeitung mehr liest, der tappt in eine Digitalisierungsfalle.“ Himmel hilf! Das mag ich nicht einmal mehr kommentieren.

Um dieser Misere (z.B. den zahllosen digitalen Elternabenden) zu entgehen „ist Medienkompetenz vonnöten, die nicht nur den Umgang mit digitalen Medien umfasst, sondern vor allem ausgeprägte Kritikfähigkeit beinhaltet“. Und wieder ein Schlag aufs tote Tier. „Was also muss passieren? Vor allem Schulen brauchen Konzepte einer fundierten Medienerziehung (…)“ Klatsch. Dann zählt Zierer zur Lösung drei Grundprinzipien auf, jedes ein Striemen auf dem Rücken des geschundenen Tiers. Das ist doch längst alles Konsens und nein, niemand möchte alles Analoge abschaffen. Auch nicht die gute alte Zeit(ung).

Und übrigens: Falls Lehrkräfte während der Schulstunde digitale Nachrichten schreiben, dann ist für nicht medienkompetente Menschen eine sogenannte „Bankrotterklärung“; für alle anderen ist es die Kontaktaufnahme mit einer Schülergruppe, die gerade in einem anderen Teil des Schulgebäudes arbeitet oder der schnelle Austausch mit Kolleginnen über freie Räume, Unterstützung oder Kontakt zum IT-Manager. Und da wären wir wieder beim Anfang: Anpassung ist das Stichwort. Die Welt ist im Wandel, ob uns das gefällt oder nicht. Man kann sich anpassen und die Evolution mitmachen oder es bleiben lassen und verbittern. Aber das entscheide jeder für sich selbst.

Durchdacht

Ich dachte schon, gestern wäre der Hammer gewesen, aber Corona macht’s möglich: Ein Brüller jagt den nächsten. „Unterricht im Freien oder die weitere Reduzierung der Lerngruppengrößen sind zu durchdenken“ – wird der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag von Spiegel Online zitiert. „Durchdenken“ soll danach klingen, dass man in der Bundestagsfraktion der Union richtig schwer über die Zukunft der Schulen in der Pandemie nachdenkt, bedeutet aber in Wirklichkeit nichts anderes als: Wir wollen uns nicht ernsthaft Gedanken machen und erst recht nicht investieren.

Unterricht im Freien! Endlich! Ich sehe es förmlich vor mir: Ein Schulhof voller Pubertiere, kohortenweise brav auf 1,5m Abstand sitzend, während Lehrer mit Megaphonen versuchen, den Straßenlärm und sich gegenseitig zu übertönen. Der Schulträger liefert dazu lastwagenweise Straßenmalkreide vom Discounter, damit der gute alte analoge Frontalunterricht auch nicht zu sehr verkommt. Nun gut, das zarte Pflänzchen WLAN, das seine jungen Blüten gerade erst durch viele Teile des Gebäudes wachsen lässt, wäre dann vollständig unnütz, aber das gute alte Edge, stabiler Standard in fast ganz Deutschland, wird uns schon aus der Misere pauken! Okay, die vom Schulträger gelieferten iPads funktionieren nur mit WLAN, aber da muss man eben mal Verzicht üben. Und da es bekanntlich kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung gibt, müssten die Schülerinnen und Schüler vorausschauend alle typisch deutschen Eventualitäten von Kältetod bis grausame Hitze vor dem Schulbesuch „durchdenken“, um mal im Politikersprech zu bleiben. Macht ja nichts, wenn die Kinder bei 40 Grad Hitze oder bei sommerlichen Regenschauern wahlweise draußen braten und / oder frieren, da muss man eben mal agil sein. Vielleicht spendet die lokale CDU gnädigerweise ein paar Einwegregenschirme und Plastiksonnenbrillen? Besonders freue ich mich auf die Windböen, die hin und wieder stoßweise alle Arbeitsblätter und Zettel quer durch die Landschaft verteilen, das wird alle fröhlich stimmen, wenn die Blätter so überraschend lustig über den Schulhof tanzen. Ob die Schülerinnen dann auf dem blanken Boden, Sitzdecken oder auf richtigen Stühlen an richtigen Tischen sitzen sollten, das überlassen wir der Phantasie unserer Abgeordneten. Vielleicht sind ja auch die verrammelten Eiscafes bereit, ihre Außengarnituren zu vermieten, denn das schwere Schulmobiliar jeden Tag rein- und rauszuschleppen… obwohl… das könnte man doch als Sportunterricht „durchdenken“, oder?

Und die Reduzierung der Lerngruppen! Das klingt richtig schön homöopathisch. Einfach verdünnen, dreimal schütteln und zehnmal draufklopfen, zack, fertig ist die coronasichere Lerngruppe. Wie es einer Lehrkraft dann noch gelingen soll, mit einer Klasse Unterricht so zu gestalten, dass alle auf einem gemeinsamen Stand sind und dass die Schülerinnen soziale Kontakte mit ihren Freundinnen und auch mit denen, die man nicht so gern hat, haben, das „durchdenke“ auch mal jemand. Wenn da nur 6-7 Kinder sitzen (womöglich draußen?) und ich für eine Deutschstunde dann vier Stunden brauche, dann möge auch bitte endlich jemand die Fülle des Stoffes und die Sinnhaftigkeit von Zeugnissen in Coronazeiten „durchdenken“.

Ich fänd’s gut, wenn der Bundestag das erst mal erproben würde: Bis zur Bundestagswahl mal alle Sitzungen draußen vorm Reichstag abhalten und ab und an debattierend durch Berliner Parks flanieren. Eine Reduzierung der Abgeordnetenanzahl ist ja schon längst überfällig. Müsste man mal „durchdenken“.

Fordert die Kommentatoren!

In diesem FAZ-Kommentar („Fordert die Lehrer!“) steht, bei aller berechtigter Kritik, doch so viel krudes Zeug, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Angefangen dabei, dass an Privatschulen vermeintlich keine verbeamteten Lehrer arbeiten bis hin zur etwas naiven Vorstellung zur Korrektur von Aufgaben oder der „Arbeitszeit“ von Schülerinnen. Irgendwann geht es dann im Kommentar auch noch um Aufgaben der Kultusministerien und Schulträger (da können wir Lehrerinnen wirklich nicht mehr viel ausrichten, auch wenn wir gut als Clickbait dienen). Auch zu den Hochschulen wird noch ein Schlenker gewagt.

Ein wilder Schlag in die Sahne, ohne jede Stoßrichtung.

Presseclub

Ihr habt ja bestimmt schon alle den heutigen Presseclub zum Thema „Rückkehr auf die Schulbank – Verantwortungslos oder überfällig?“ gesehen. Muss mal eine Lanze für @ciffi brechen, der natürlich die digitale Fraktion unter uns Lehrern sehr gut kennt. Aber auch Heike Schmoll, bei deren Artikeln ich oft in meinen Bart brummele, hat mir in der Diskussion sehr gefallen. Am sonderbarsten fand ich den Vorschlag von Philip Banse, doch einfach jeden Tag alle Schüler anzurufen. Die Kolleginnen mit zweistündigen Fächern und neun bis zwölf Lerngruppen á 24-30 Schülerinnen werden sich bedanken. Was wohl die Eltern sagen, wenn bei drei Kindern jeden Tag alle Lehrer durchklingeln… naja – elegant ist anders.

Fürs Protokoll: Bin heute, während ich kurz dem Hashtag #presseclub auf Twitter folgte, zum ersten Mal dem Begriff „postdigital“ begegnet. Muss jetzt erstmal herausfinden, was das bedeutet und ob es nur für die nächste Generation Ratgeberliteraturautoren sinnvoll ist.

Was Eltern leisten.

Es ist die große „ich klaube mir Links bei Buddenbohm zusammen“-Woche. Nachdem heute morgen die Schulleiterperspektive dran war, folgt nun die Elternpersktive: „Homeschooling, my ass“! Dort beschreibt Lisa Harmann, warum ein süffisantes „Hach, jetzt seht ihr Eltern mal, was Lehrer so leisten“ in keiner Weise angemessen ist.

Maik Riecken hatte vor gut einer Woche dazu auch schon was („Kurzer Rant über Elternspott einiger Kolleg*innen“) geschrieben.

Wanzen.

Bin nun schon seit einigen Jahren Mitglied des Lehrerrates und habe durchaus erlebt, dass man uns Lehrerräten seitens der Schulleitung in unserer Funktion ein gewisses Misstrauen entgegen bringt. Dabei sind wir ganz nett, fast handzahm und beißen gar nicht, gleichwohl unsere Funktion bedingt, dass wir Vieles anders betrachten als Schulleitungen. Dass Lehrerräte und Schulleitungen darum manche Sachverhalte unterschiedlich bewerten – geschenkt. Dass Lehrerräte und Schulleitungen nicht immer im Konsens auseinandergehen – geschenkt. Dass beide Perspektiven verlangen, dass man mal die ein oder andere Kröte schlucken muss – geschenkt.

Dass eine Schulleitung jedoch die Räumlichkeiten des Lehrerrates gleich verwanzt, das ist dann doch ein wenig zu viel des Guten. Mann, Mann, Mann, was für ein Control-Freak muss man sein…?

Lesestoff.

Während ich und mein Kollegium heute auf einem pädagogischen Tag darüber brüten, wie wir unsere Ganztagsschule für das G9 aufstellen wollen, poste ich hier mal Links zu zwei bedenkenswerten Texten.

Der erste Text, „Schulinterne Lehrpläne: Pädagogische Chance, triste Realität“ beschäftigt sich mit dem Thema der überstürzten Erstellung neuer Lehrpläne bzw. der verschenkten Chance, die damit einhergeht. Es stehe zu befürchten, dass „es wohl in vielen Fällen bei einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bleiben [wird], bei der für die pädagogische Praxis folgenlose Papiere entstehen, die in Aktenschränken verstauben.“ Sehr lang, mit Lösungsvorschlägen am Ende.

Der zweite Text, „Wer bin ich denn?“, geschrieben von einer anonymen Schülerin aus NRW, wirkt ein wenig wie ein Wiedergänger des bekannten Tweets von Naina, der 2015 Schlagzeilen machte. Die Schülerin beschwert sich über „Bulimielernen“, stellt Schule als Lernort generell in Frage und lässt nebenbei eine ganze Menge Frust ab. Mir ist das ein bisschen zu viel Rundumschlag (Hausaufgaben, Inhalten, monotone Lehrer, Pädagogik, Ausstattung). Ihre wichtigste Frage stellt sie zum Schluss:

Ich gebe niemandem die Schuld! Es liegt in der Natur der Sache, dass wir uns selber als Gesellschaft keinen Gefallen damit tun, wenn Kinder durch ein Schulsystem geschleift werden, das nicht den Menschen in den Vordergrund stellt, sondern ein System aus längst vergangenen Zeiten! Wer soll denn all die aktuellen und künftigen Probleme lösen? Und vor allem — mit welchen Mitteln?

Und das wünsche ich mir für den heutigen pädagogischen Tag: Dass wir nicht für die Papiertonne arbeiten und dass wir immer die Belange der Schüler*innen im Blick haben werden – und nicht Hahnenkämpfe um die eigenen Pfründe und Steckenpferde führen (… allein mir fehlt der Glaube).