Ich hab’s ja gestern schon öffentlich zugegeben: Ich alter Mann vermisse die gute alte Blogosphäre aus den 2000ern. Aber ich bin auch selbst schuld, gell? Zu lange auf Twitter herumgehockt, in ruheloser Frequenz sinnlose Einzeiler gepostet und das Bloggen vernachlässigt. Aber hätte es etwas geändert, wenn ich fleißig durchgebloggt hätte? Natürlich nicht. Niemand kann derartig mächtige gesellschaftliche Entwicklungen im Alleingang aufhalten. Die Welt und die Menschen in ihr verändern sich; man kann sich dem Wandel entgegenstemmen und daran zerbrechen oder man lernt, sich anzupassen. Das nennt man Evolution und ist das jahrmillionenalte Erfolgsrezept fürs Überleben auf unserem gesamten Planeten.
Und so ich kann ich es ein Stück weit verstehen, wenn heute zwei ältere Männer ihrer guten alten Welt nachjammern. Da hätten wir einerseits Jürgen Kaube aus der FAZ, der sich anlässlich der Streichung des „Faust“ aus dem bayerischen Abitur bitterlich über den heutigen Literaturunterricht beschwert. Quintessenz: Man lese lächerlich wenig an deutschen Schulen, fünf Ganzschriften seien zu wenig, denn einzelne Werke müssten den gesamten Kanon repräsentieren. In den Kommentaren tobt der Mob, man könnte fast glauben, in Bayern wäre eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen eingeführt worden.
Milchmädchen
Kein Faust mehr! Der Autor bedauert: „So war „Faust“ seit 2016 Pflichtstoff an bayerischen Gymnasien, war bis 2019 in Nordrhein-Westfalen obligatorisch, ist es noch in Hessen und Schleswig-Holstein.“ Richtig. Seit 2021 gibt es in NRW keinen Faust mehr. Obligatorisch war der „Faust“ aber auch davor in NRW nicht immer. In den ersten Jahren des Zentralabiturs gab es in NRW keinen „Faust“ – stattdessen: Schillers „Don Karlos“ oder Büchners „Dantons Tod“. Warum auch nicht?
Ich fände es auch recht unterhaltsam, den Autor dabei zu beobachten, wie es ihm gelingt, mehr als fünf Lektüren im Unterricht erschöpfend (denn das dürfte ja sein Anspruch sein) zu behandeln. In seinem Text rechnet er sich aus, wie wenig deutsche Schüler zu lesen angehalten seien (nur 27 Seiten beim Faust! Nur fünf Ganzschriften in zwei Jahren!), denn beim bloßen Durchlesen wird es ja nicht bleiben können. Vergessen wird auch, dass das letzte Halbjahr zum einen der Wiederholung des zuvor Erarbeiteten, aber eben auch der ganz praktischen Abiturdurchführung gilt. Dabei ist es zumindest in NRW immer so, dass das erste Halbjahr für die Abiturienten direkt vor Weihnachten endet, womit der Zeitrahmen enger bemessen ist als bei Schülern der Sekundarstufe I. Denn neben dem reinem Lesen von epischen und dramatischen Ganzschriften sollen Schüler gewiss auch die Lyrik ausgiebig analysieren sowie sprachliche und methodische Kompetenzen vertiefen, die eigene Schreibkompetenz stärken und verbessern, die Medienkompetenz ausbauen (siehe unten) und ferner Sprachgeschichte und Sprachwandel (wahlweise auch die Sapir-Whorf-Hypothese, Sprachskepsis oder Sprachentstehungstheorien) verstehen lernen, nebst Filmanalyse und Bühneninszenierung. Dabei haben unsere Oberstufenschüler oft Tage, die sich von morgens früh bis abends spät um 17.00 Uhr erstrecken, dazu noch der Heimweg, Hausaufgaben, Lernaufgaben, Pause? Von den anderen Fächern haben wir dann noch gar nicht gesprochen, auch die verlangen übrigens das Lesen von Ganzschriften (deren Seitenzahlen darf der mathematisch gewiefte Herr Kaube gerne aufs Lesepensum hinzuaddieren) und in sachkundlichen Fächern lesen wir zwar keine Ganzschriften, aber ein Geschichtsbuch hat schon ziemlich viele lang(weilig)e Texte, die gelesen werden müssen. Eine Milchmädchenrechnung eines Mannes, der nebst seinen Claqueuren einer Zeit hinterhertrauert, die es in ihrer reinen Romantik vermutlich nie gegeben hat.
Wir dreschen uns zu Tode
Der andere Herr, es ist Klaus Zierer, meldet sich im Spiegel Online zu Wort und beweist seine Schlagzeilenkompetenz: „Wir wischen uns zu Tode“ lautet der dramatische Titel seines Meinungsartikels. Zierer nutzt so in Titel und Text den tragischen Tod eines achtjährigen Mädchens aufgrund einer TikTok-Challenge als Aufhänger, um seine dann recht unspektakuläre medienskeptische Sicht zu verbreiten.
So richtig mag ihm das allerdings nicht gelingen, stattdessen drischt er ein totes Pferd. Kritik wie gehabt: Alle seien viel zu naiv im Umgang mit digitalen Medien. Es benennt reichlich bekannte Probleme (z. B. Cybermobbing, Ablenkungspotenzial) und verweist auf Probleme beim Lernen und Lesen, verlinkt dazu dann aber einen Artikel, der zeigt, dass diese coronabedingt sind. Nun ja, jeder belegt so gut er kann.
Um Allgemeinplätze ist er nicht verlegen. Man stelle sich im Folgenden einen Lehrer-Lämpel-Zeigefinger vor: „Schlechter Unterricht wird durch digitale Medien nicht besser, nur guter Unterricht kann davon profitieren.“ Medienerziehung ist nun sein Stichwort! Und nun stirbt das tote Pferd mit jedem Absatz ein wenig mehr. Man mag es kaum zitieren, aber: „Wer aber aus Bequemlichkeit Elternabende nur noch digital veranstaltet, mit der Freundin ein paar Häuser weiter stundenlang chattet, anstatt sie zu besuchen, und sich über Politik ausschließlich in den sozialen Medien informiert und keine Zeitung mehr liest, der tappt in eine Digitalisierungsfalle.“ Himmel hilf! Das mag ich nicht einmal mehr kommentieren.
Um dieser Misere (z.B. den zahllosen digitalen Elternabenden) zu entgehen „ist Medienkompetenz vonnöten, die nicht nur den Umgang mit digitalen Medien umfasst, sondern vor allem ausgeprägte Kritikfähigkeit beinhaltet“. Und wieder ein Schlag aufs tote Tier. „Was also muss passieren? Vor allem Schulen brauchen Konzepte einer fundierten Medienerziehung (…)“ Klatsch. Dann zählt Zierer zur Lösung drei Grundprinzipien auf, jedes ein Striemen auf dem Rücken des geschundenen Tiers. Das ist doch längst alles Konsens und nein, niemand möchte alles Analoge abschaffen. Auch nicht die gute alte Zeit(ung).
Und übrigens: Falls Lehrkräfte während der Schulstunde digitale Nachrichten schreiben, dann ist für nicht medienkompetente Menschen eine sogenannte „Bankrotterklärung“; für alle anderen ist es die Kontaktaufnahme mit einer Schülergruppe, die gerade in einem anderen Teil des Schulgebäudes arbeitet oder der schnelle Austausch mit Kolleginnen über freie Räume, Unterstützung oder Kontakt zum IT-Manager. Und da wären wir wieder beim Anfang: Anpassung ist das Stichwort. Die Welt ist im Wandel, ob uns das gefällt oder nicht. Man kann sich anpassen und die Evolution mitmachen oder es bleiben lassen und verbittern. Aber das entscheide jeder für sich selbst.