Auf Twitter geben sich regelmäßig mehr oder weniger große und kleine Hypes die Klinke in die Hand. Aktuell ist der „Flipped Classroom“ in meiner Bubble en vogue. „Flipped Classroom“ bedeutet, dass die Schüler zuhause Erklärvideos schauen und dafür die Unterrichtszeit zum Üben, Diskutieren und Anwenden nutzen. (Polemisch formuliert: Statt der herkömmlichen Lesehausaufgabe schaut man nun Videos. Falls ich hier ungenau bin, dann mögen die passionierten Flipper gerne in den Kommentaren korrigierend eingreifen. 😉 ).
Und so kam es, wie es kommen musste, vor einigen Tagen auf Twitter zu einer polemisch angehauchten Auseinandersetzung, ob Text nicht doch etwas „old school“ wäre, und ich wollte schon twittermäßig voll reingrätschen, alleine schon, weil „old“ nicht gleichzusetzen ist mit „schlecht“ und wegen der einhundertausend Vorteile von Text, aber dann… nutze ich nicht auch andauernd irgendwelche Videos, um mir Dinge erklären zu lassen? Und lernen nicht andauernd alle möglichen Menschen um mich herum Neues aus YouTube-Videos?
Youtubifizierung des Lernens
Das Lernen mit Video ist nichts Neues. Schüler werden schon seit Generationen vom Telekolleg, ratternden Videorollen, leiernden VHS-Videos oder DVDs begleitet. Und mit YouTube ist das doch noch besser geworden:
Erst letzte Woche noch hatte ich keine Ahnung, wie ich die Gangschaltung des Fahrrads meiner Tochter einstellen sollte. Schnell bei Google gesucht, und einen Haufen unverständlicher Texte gefunden. Schwupps – auf YouTube das passende Video gesucht: Nach nur fünf Minuten war mir halbwegs klar, was zu tun war. Die Schaltung funktioniert wieder. Ein weiteres Beispiel: Meine Frau hat gerade das Häkeln für sich entdeckt. Gelernt hat sie es nicht in teuren Kursen oder mit Büchern Aus der Bibliothek, sondern ganz einfach per YouTube.
Auch den Song „Road Trippin'“ der Red Hot Chili Peppers habe ich per Video gelernt. Was ich nämlich nicht gelernt habe, ist es, Noten zu lesen und dank YouTube kann ich trotzdem Gitarre spielen. Die Kombination von Hören und eingeblendeter Tabulatur machen das Nachspielen viel leichter. Wie beim Häkeln oder der Gangschaltung: Manchmal ist es eben einfacher, wenn man das Ergebnis sehen und hören kann.
Besonders dann, wenn die visuelle Unterstützung sich direkt auf das Lernergebnis auswirkt, sind Videos hilfreich. Es ist also doch etwas dran am Lernen per Video.
Zeit
Auf der Gegenseite steht die Ökonomie: Videos zu konsumieren dauert sehr viel länger, als die gesprochene Menge an Text zu lesen. Dabei rast der Inhalt auch noch in Echtzeit am Konsumenten vorbei: was verpasst wird, wird verpasst, das Zurückspulen kostet wiederum viel Zeit. In der Regel meide ich Lernvideos oder Videomitschnitte von Vorträgen, weil das Dargestellte oft schneller zu lesen wäre. Den Hanse-Mooc bei Iversity habe ich nach wenigen Videoschnipseln drangegeben, weil mir die Zeit am Ende einfach zu schade war. Ein Text zur Einführung in die Geschichte der Hanse wäre hier zielführender gewesen.
Von der Zeit für das Erstellen eines guten Videos wollen wir gar nicht sprechen. Natürlich hätte ich diesen Text schnell in eine Kamera quatschen können, aber selbst dabei hätte ich mich zigmal versprochen und neu starten müssen. Ein gutes Video braucht Vor- und Nachbereitung, unter Umständen eine zweite Kamera, vielleicht sogar einen eigenen Kameramann oder jemanden, der visuelle Effekte gekonnt einarbeitet, denn wir sprechen ja von Lernvideos. In meinem Arbeitsalltag undenkbar. Und gekonnt sein, muss es auch. Und wenn es aus irgendeinem Grund Mist ist, kann man es nicht schnell korrigieren. Hm.
To flip or not to flip?
Überträgt man das auf Schule im Ganzen, dann sehe ich da für mich wenig Möglichkeiten, den „Classroom“ per Video zu „flippen“ ohne dabei Unmengen an Zeit zu verbraten, und zwar sowohl meine Zeit als auch die Zeit der Schüler.
Text hat eben seine eigenen unschlagbaren Vorteile. Man kann ihn im eigenen Tempo lesen, schnell vor- und zurückblättern, anmerken, hat Begriffe unmittelbar vor Augen und kann komplexe Sachverhalte schnell sowie gründlich erfassen. Fußnoten erlauben schnelle Ergänzungen, ohne vom Kern wegzulenken, und Komplexes darf komplex bleiben, weil der Leser ja alle Zeit der Welt hat, wieder und wieder zu lesen und nachzuvollziehen. Was einer in zehn Minuten in eine Kamera salbadert, habe ich in einem Drittel der Zeit weggelesen. Ich kann innehalten, wenn mir danach ist, Gedanken weiterspinnen oder in aller Ruhe Notizen machen.
Und jetzt bin ich doch wieder beim Text gelandet. Bin ich etwa zu old school?
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