Das eigene Tempo

Der Unterricht der Zukunft“ lautet der Titel eines aktuellen FAZ-Artikels, in welchem die Autorin die potentiellen Segnungen des digitalen Unterrichts beschreibt. Im Kern wiederholt sie die alte Leier vom Lehrer, der als „Kurator“ seinen Schülerinnen beisteht. In Deutschland lerne man ja noch „im Akkord“ und „gleichgeschaltet“. Ich spare mir jetzt böse Anmerkungen zu den in Anführungszeichen markierten Begriffen und bleibe beim Thema „eigenes Tempo“.

Habe gerade eine Reihe hinter mir, in der ich als „Kurator“ für Wortarten tätig war und die Schülerinnen überwiegend im eigenen Tempo habe lernen und üben lassen. Mit Checklisten, Selbstüberprüfung und abgestuften Aufgabentypen und eigenem Tempo, aber auch mit instruktiven Phasen. Zugute kommt diese Arbeitsweise jedoch eher den Schülerinnen, die sowieso schon in der Lage sind, eigenständig zu arbeiten, schulischen Ehrgeiz zeigen, darüber hinaus den Mut haben, Fragen zu stellen und die zügig arbeiten können. Allen anderen fällt das „eigene Tempo“ eher auf die Füße als dass es hilft, solange wir alle bis zu einem Zeitpunkt X alle Klassenarbeiten geschrieben haben müssen. Denn bei der Zeugniskonferenz akzeptiert niemand, wenn ich sage, dass leider die Noten von zehn Schülerinnen noch fehlen, weil sie noch in Ruhe die Zeitformen des Verbs erarbeiten wollen oder weil eine Schülerin extrem getrödelt hat. Mit Deadlines zur Leistungsüberprüfung bleibt „Lernen im eigenen Tempo“ eine Farce.

Oder wie löst ihr das?

Video Kills The Classroom-Star?

Auf Twitter geben sich regelmäßig mehr oder weniger große und kleine Hypes die Klinke in die Hand. Aktuell ist der „Flipped Classroom“ in meiner Bubble en vogue. „Flipped Classroom“ bedeutet, dass die Schüler zuhause Erklärvideos schauen und dafür die Unterrichtszeit zum Üben, Diskutieren und Anwenden nutzen. (Polemisch formuliert: Statt der herkömmlichen Lesehausaufgabe schaut man nun Videos. Falls ich hier ungenau bin, dann mögen die passionierten Flipper gerne in den Kommentaren korrigierend eingreifen. 😉 ). 

Und so kam es, wie es kommen musste, vor einigen Tagen auf Twitter zu einer polemisch angehauchten Auseinandersetzung, ob Text nicht doch etwas „old school“ wäre, und ich wollte schon twittermäßig voll reingrätschen, alleine schon, weil „old“ nicht gleichzusetzen ist mit „schlecht“ und wegen der einhundertausend Vorteile von Text, aber dann… nutze ich nicht auch andauernd irgendwelche Videos, um mir Dinge erklären zu lassen? Und lernen nicht andauernd alle möglichen Menschen um mich herum Neues aus YouTube-Videos? 

Youtubifizierung des Lernens 

Das Lernen mit Video ist nichts Neues. Schüler werden schon seit Generationen vom Telekolleg, ratternden Videorollen, leiernden VHS-Videos oder DVDs begleitet. Und mit YouTube ist das doch noch besser geworden:

Erst letzte Woche noch hatte ich keine Ahnung, wie ich die Gangschaltung des Fahrrads meiner Tochter einstellen sollte. Schnell bei Google gesucht, und einen Haufen unverständlicher Texte gefunden. Schwupps – auf YouTube das passende Video gesucht: Nach nur fünf Minuten war mir halbwegs klar, was zu tun war. Die Schaltung funktioniert wieder. Ein weiteres Beispiel: Meine Frau hat gerade das Häkeln für sich entdeckt. Gelernt hat sie es nicht in teuren Kursen oder mit Büchern Aus der Bibliothek, sondern ganz einfach per YouTube. 

Auch den Song „Road Trippin'“ der Red Hot Chili Peppers habe ich per Video gelernt. Was ich nämlich nicht gelernt habe, ist es, Noten zu lesen und dank YouTube kann ich trotzdem Gitarre spielen. Die Kombination von Hören und eingeblendeter Tabulatur machen das Nachspielen viel leichter. Wie beim Häkeln oder der Gangschaltung: Manchmal ist es eben einfacher, wenn man das Ergebnis sehen und hören kann. 

Besonders dann, wenn die visuelle Unterstützung sich direkt auf das Lernergebnis auswirkt, sind Videos hilfreich. Es ist also doch etwas dran am Lernen per Video. 

Zeit

Auf der Gegenseite steht die Ökonomie: Videos zu konsumieren dauert sehr viel länger, als die gesprochene Menge an Text zu lesen. Dabei rast der Inhalt auch noch in Echtzeit am Konsumenten vorbei: was verpasst wird, wird verpasst, das Zurückspulen kostet wiederum viel Zeit. In der Regel meide ich Lernvideos oder Videomitschnitte von Vorträgen, weil das Dargestellte oft schneller zu lesen wäre. Den Hanse-Mooc bei Iversity habe ich nach wenigen Videoschnipseln drangegeben, weil mir die Zeit am Ende einfach zu schade war. Ein Text zur Einführung in die Geschichte der Hanse wäre hier zielführender gewesen. 

Von der Zeit für das Erstellen eines guten Videos wollen wir gar nicht sprechen. Natürlich hätte ich diesen Text schnell in eine Kamera quatschen können, aber selbst dabei hätte ich mich zigmal versprochen und neu starten müssen. Ein gutes Video braucht Vor- und Nachbereitung, unter Umständen eine zweite Kamera, vielleicht sogar einen eigenen Kameramann oder jemanden, der visuelle Effekte gekonnt einarbeitet, denn wir sprechen ja von Lernvideos. In meinem Arbeitsalltag undenkbar. Und gekonnt sein, muss es auch. Und wenn es aus irgendeinem Grund Mist ist, kann man es nicht schnell korrigieren. Hm. 

To flip or not to flip?

Überträgt man das auf Schule im Ganzen, dann sehe ich da für mich wenig Möglichkeiten, den „Classroom“ per Video zu „flippen“ ohne dabei Unmengen an Zeit zu verbraten, und zwar sowohl meine Zeit als auch die Zeit der Schüler. 

Text hat eben seine eigenen unschlagbaren Vorteile. Man kann ihn im eigenen Tempo lesen, schnell vor- und zurückblättern, anmerken, hat Begriffe unmittelbar vor Augen und kann komplexe Sachverhalte schnell sowie gründlich erfassen. Fußnoten erlauben schnelle Ergänzungen, ohne vom Kern wegzulenken, und Komplexes darf komplex bleiben, weil der Leser ja alle Zeit der Welt hat, wieder und wieder zu lesen und nachzuvollziehen. Was einer in zehn Minuten in eine Kamera salbadert, habe ich in einem Drittel der Zeit weggelesen. Ich kann innehalten, wenn mir danach ist, Gedanken weiterspinnen oder in aller Ruhe Notizen machen. 

Und jetzt bin ich doch wieder beim Text gelandet. Bin ich etwa zu old school?

Lernlab KAS? Zu Hilfe!

Und da fragte die @Barfussprinzess doch glatt, ob ich auch in Köln beim Lernlab dabei sein werde. Öhm. Lernlab? In der KAS? Das war mal wieder an mir vorbeigezogen, obwohl ich bei Kubi doch schon einmal etwas über das Lernlab Berlin gelesen hatte. Und während ich zum Lernlab KAS recherchierte, wurde mir klar, dass ich lehrer2.0mäßig nichts zu bieten habe. Nix 2.0, eher Lehrer 0.0. Doppelnull. Zu Hilfe! Oder?

Lernlabs

Das Lernlab ist eine Veranstaltung, bei der Lehrer, wenn ich es richtig verstanden habe, quasi in bester Piratenmanier für einen Tag eine Schule „kapern“, dort nach Absprache (okay, nur so halb-piratig) den Unterricht übernehmen und dabei neue Konzepte des Lernens2.0 vorstellen. Zum Beispiel die von Kubiwahn erwähnten digitalen Backchannel von @Lammatini im allgemeinen Unterrichtsgespräch. Fünf interessierte Gäste hospitieren dabei zusätzlich.

Und ich so?

Und als ich so nach dem Hashtag des nächsten Lernlab suchte, fand ich diese Auflistung möglicher Aktivitäten für das nächste Lernlab im Oktober in der Kölner Kaiserin-Augusta-Schule. Während ich die Auflistung durchging, stellte sich mir die Frage, ob ich mich auch auf dieser Liste wiederfinden könnte und welchen Beitrag ich liefern könnte, das kleine Rädchen der digitalen Bildung in NRW ein klein wenig weiter zu drehen.

Zu allem Übel hatte ich dabei noch einen kritischen @ciffi und eine anspruchsvolle @lisarosa auf dem Screen. Der eine mokierte sich über die mangelnde digitale Praxis der Lehrerschaft, die andere betonte das andere, nicht allein auf neoliberal orientiertes Bulimielernen orientierte Lernen, ohne das alle 2.0-Bestrebungen sinnlos sein, was die eigene Einschätzung nicht leichter machte.

Nichts

Die beschämende Antwort war: Nichts. Da hatte ich nichts zu bieten. Wikis haben sich in meinem Unterricht nicht etablieren lassen, Moodle auch nur schleppend und mit Nachhaken. Klar, einzelne Tools lassen sich mal vermitteln (z. B. Prezi als PP-Ersatz), aber ein dauerhafter Einsatz, der Mehrwert oder sinnvollen Ersatz bestehender Methoden oder Werkzeuge versprach… da sah’s doch eher mau aus. Geocaching im Geschichtsunterricht? Noch nie. Der Einsatz toller Handy-Lernapps im Unterricht? Never.
Nun, ich scheue bewusst Dienste, die Anmeldungen verlangen, weil ich meine Schüler denen nicht aussetzen mag. Facebook ist für mich mittlerweile besonders persönlich ein No-Go, da will ich selbst nicht mehr hin. Seit meine Mobilnummer über die Telefonliste auch an die SuS „durchgesickert“ ist, versuchen manche Schüler, mich über WhatsApp zu erreichen, was in Einzelfällen hilfreich sein kann, aber im Großen und Ganzen von mir boykottiert wird (furchtbarer Lehrer, der ich bin, ich weiß schon…), weil eben das Gros der Schüler von der Kommunikation ausgeschlossen ist. Und von Lernen will ich gar nicht reden. Die mediale Ausstattung an meiner Schule ist, als dürre Entschuldigung eingeschoben, bescheiden. Beamer hängen in Fachräumen, die ich in der Regel selten betrete, und ein ganzes Exemplar für ca. 110 Kollegen kann man sich ausleihen. Aber anderen kann es ja nicht besser gehen. Und dennoch: Nichts, nichts, nichts, wohin ich auch blickte.

Dünn, mau, geradezu beschämend sah es also aus mit der Lehrer2.0fähigkeit meiner Wenigkeit. Obwohl…

Der letzter Rettungsanker: Weblogs

… Blogs, mit denen hatte ich schon mehrere 2.0-Versuche gestartet. Aber ob deren Ergebnisse wohl für eine Präsentation vor anderen Lehrern bestehen würden und ob der Einsatz wirklich den erhofften „Mehrwert“ gebracht hat? Davon mehr im nächsten Beitrag.

Inklusion per TPS, LDL und ein pädagogischer Placebo

Was ich beim zweiten Termin (der zeitlich noch vor dem letzten Bericht lag) meiner Fortbildung zum Thema Inklusion gelernt habe, ist, dass Gymnasien in nichtgymnasialen Kreisen wohl immer noch als verstaubten Bastionen der Tafeldidaktik betrachtet werden.

Allgemeinplätze

Anders kann ich mir nicht erklären, warum wir lernen sollten, dass die Think-Pair-Share-Methode (TPS) eine schöne Bereicherung für unseren Unterricht wäre, und dass man uns den Ratschlag gab, dass wir mit den SuS zwischendurch auch einmal sozialen Themen arbeiten müssten. Ich meine: Wir sitzen da, opfern Korrekturzeit, lassen zum Teil unseren Unterricht vertreten und bekommen dann Allgemeinplätze vorgesetzt, die jeder Referendar eingeimpft bekommt, die in jedem Methodenhandbuch stehen und überdies fest in unserem Schulprogramm verankert sind. Natürlich arbeiten wir auch an sozialen Themen mit den SuS, und neben TPS kennen sogar scheiß-schnöselige Gymmi-Lehrer noch ein bis zwei andere Methoden außer „vorne an Tafel“.

Neben TPS wäre uns auch Lernen-durch-Lehren (LdL) zu empfehlen, obwohl die freien Unterrichtsformen – nun ja – gerade den SuS mit mangelnder Sozialkompetenz große Schwierigkeiten bereiten würden, die bräuchten eben sehr viel Struktur, denen sollte man nicht zu viel Freiraum lassen. Offene Formen wären aber dennoch zu empfehlen! Tipps? Mal ein kleines Beispiel? Fehlanzeige. Unsere Verwirrung war komplett. Rin in de Kartoffeln, raus aus de Kartoffeln. Mein Fazit: Selbst austesten. Wie immer. „Wird sich schon zurechtruckeln.“

Sollte es zu Regelüberschreitungen kommen, könne man sich an der vierstufigen Eskalationsleiter orientieren. Zuerst ein nonverbaler Hinweis; dann eine verbale Rückmeldung; sollte das auch nicht fruchten, soll der Betreffende zur Rede gestellt werden und im letzten Schritt eine „Auszeit“ z. B. eine Reflexionsaufgabe in einem Sozialraum bekommen. Auch das war ein Punkt, wo ich mich gefragt habe, warum ich da nun sitze? Was glaubt man denn? Dass wir den Rohrstock herausholen, wenn einer aufmuckt? Oder etwa, dass bei uns alle Schüler wie Englein an den Tischen sitzen und in den Pausen gemäßigten Schritts auf dem Schulhof lustwandeln? Lediglich am „Auszeitraum“ fehlt es uns, und bisher habe ich ihn auch nicht vermisst, das ändert sich ja nun vielleicht bald.

Das Sozialzielecenter

Das Sozialzielecenter war mir dann hingegen komplett neu. Das Sozialzielecenter funktioniert so, dass man jede Woche ein Ziel im sozialen Bereich auf ein Plakat pappt und am Ende jedes Schultages reflektiert, wie sich das Erreichen dieses Ziels gestaltet hat. Ein reduziertes Beispiel für ein Sozialzielecenter findet man auf der Seite der Grund- und Mittelschule Schwanfeld.

Was bei mir bislang ankommt, ist, dass wir in Zukunft wohl sehr viel Zeit mehr mit dem Basteln von Kärtchen und dem Bepunkten von Verhalten verbringen sollen. Das Prinzip „Grundschule meets Gymnasium“ lässt mich ein wenig sprachlos zurück. Bislang bedeutet Inklusion lediglich das Übertragen von Primarstufenmethoden auf die Sekundarstufe. Meine jetzige sechste Klasse würden mich für durchgedreht erklären, wenn ich denen mit dem Sozialzielecenter um die Ecke käme. Die führen eigenständig Klassenratssitzungen und rocken die Schülerratssitzung. Aber wir versuchen’s trotzdem mit dem Sozialzielecenter, auch wenn ich an seiner Effektivität zweifele. Aber vielleicht hat ja jemand positive Erfahrungen damit und es ist doch nicht nur ein pädagogischer Placebo, wie ich befürchte.

(Nachtrag: Sachfehler im Titel und im letzten Absatz korrigiert)

Schüler abholen

Man stelle sich vor: Eine Lehrerin begibt sich jeden Nachmittag zu den Stammtreffpunkten ihrer Schüler, z.B. zu dem abgelegenen Spielplatz, der Skaterbahn, dem Bolzplatz oder der schönen Liegewiese im Park, um dort ein wenig Smalltalk zu halten und mögliche Probleme bei den Hausaufgaben zu besprechen. Dann pinnt sie für die Schüler, die es in der Schule nicht mitbekommen haben, die aktuellen Hausaufgaben an den nächstgelegenen Baum, den Torpfosten oder an die Skaterramp, verabschiedet sich freundlich und fährt wieder nach Hause, um den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten.
Die meisten Menschen würden sie sicherlich für übermotiviert und urlaubsreif halten, und niemand würde sich wundern, wenn die junge Frau nach einigen Wochen ihre Schüler nicht mehr an den gewohnten Plätzen finden würde, weil diese genervt den Treffpunkt geändert hätten.

So ungefähr ergeht es gerade Facebook, folgt man Daniel Miller, Professor am University College London und Leiter der Global Social Media Impact Study:

This month my focus has been on the sixth formers, that is 16-18 year olds at schools in The Glades, our UK fieldsite. For this group Facebook is not just falling, it is basically dead, finished, kaput, over. It is about the least cool thing you could be associated with on the planet. It has been replaced by a combination of four media, Twitter, Instagram, Snapchat and WhatsApp. (Quelle)

Miller sieht die Gründe darin, wie folgt:

Pretty much everyone remembers the shock of that moment when ‘my mother just asked to friend me on Facebook‘, and that is probably the single major reason that it lost status. You just can’t be young and free while all the time Mum is watching you.

Und es dürften nicht nur die Mütter sein, die ihren Teenagern Facebook vermiesen. Das Gleiche dürfte für Lehrer gelten.

Schüler da abholen, wo sie sind

Aber bitte, mögen eifrige Netzdidaktiker entgegenhalten, man muss die Schüler doch abholenwo sie sind. Wenn die Schüler sich auf Facebook aufhalten, dann muss der up-to-date Lehrer auch auf Facebook sein. Facebookgruppen sind der letzte Schrei, völlig ungeachtet dessen, dass man nur Teile seiner Lerngruppe erreichen kann und uneingedenk der wider- und allgegenwärtigen Datenschutzproblematik.

Schüler abholen, wo sie sind. Gemeint ist damit, dass Schüler im Unterricht inhaltlich nicht über- oder unterfordert werden und dass Themen so aufbereitet werden, dass sie einen möglichst nahen Lebensweltbezug zu den Schülern aufweisen, dass Schülerinteressen beachtet werden. In den didaktisch-digitalen Netzdebatten jedoch hat man diese Wendung oft missverstanden und sich daraus das Recht gestrickt, als Lehrer möglichst in die digitalen Räume der Schüler einzudringen und diese in die Gestaltung des Unterrichts einzubeziehen. Dass das, wie die Studie nun andeutet, auf Dauer keine Werbung für gewisse soziale Netzwerke sein dürfte, war abzusehen. Schon 2011 hatte ich prophezeit:

Seht euch also vor, ihr sozialen Netzwerke. Wir haben [den Schülern] das Bücherlesen vermiest, wir werden ihnen auch soziale Netzwerke vermiesen können… (Lehrer2.0: Mediale Heuschrecken)

Verlässliche Orte schaffen

In der schnellen Web2.0-Welt kann aus dem „Abholen“ schnell ein rastloses Hinter-den-Schülern-her werden, gestern die siechende FB-Gruppe, heute WhatsApp und morgen Snapchat, übermorgen mit Sicherheit schon der nächste Dienst. Sinnvoller, auch im Sinne eines selbstständigen Lernens ist es, die Schüler nicht „abzuholen“ (bzw. ihnen hinterherzulaufen), sondern den Schülern einen verlässlichen und zuverlässigen Ort zu bieten, an dem sie Hilfe, Aufgaben etc. finden können. Der fehlt uns häufig noch. Wir sollten lieber daran arbeiten, als unsere Energie für das Hinterherhecheln hinter kurzlebigen Webmoden zu vertändeln.

Laut lesen oder leise?

Sie könnte ja fast ein Survivaltipp für Lehrer sein, wenn sie eine hohe Schülerbeteiligung simulieren wollen, die Frage: Wer will vorlesen? Doch ist das laute Lesen wirklich so beliebt bei Schülern und sorgt es nicht insgeheim für eine eher niedrige Beteiligung?

Bei mir war das so: Als Schüler habe ich das laute Lesen geliebt, solange ich laut lesen durfte. Lasen andere, habe ich schon im Stillen vorweggelesen und, während der Text geradebrecht wurde, gelangweilt aus dem Fenster geguckt. Und wenn ich laut lesen durfte, dann habe ich mich oft so auf das gute Artikulieren konzentriert, dass ich selber den Text hinterher noch einmal leise nachlesen musste, um zu wissen, was darin stand.

Lautes Lesen – eine Bremse für den Unterricht?
In meinem Unterricht habe ich den Eindruck, dass ich gerade in den unteren Klassenstufen zu oft laut lesen lasse, weil ich mir einbilde, jeder Schüler hätte dann den gleichen Stand. Aber ist das nicht nur Ausdruck eines dämlichen, langweiligen und schnelle Leser einschränkenden Gleichschrittunterrichts? Wären nicht stille Lesephasen sinnvoller, wenn man nicht gerade durch szenisches Lesen schon auf eine Interpretation hinarbeitet?

Auch bei Antolin, dem vermutlich bekanntesten Portal zur Leseförderung, setzt man jedenfalls auf leises Lesen, denn „lautes Lesen ist nicht gleich Leseverständnis“. Logisch, war ja bei mir früher auch so. Leises Lesen ist also besser, die Experten von Antolin müssen’s ja wissen. Doch so einfach ist das nicht.

Prof. Lösener von der PH Heidelberg weist darauf hin, dass „nicht übersehen werden [darf], dass lautes, halblautes und leises Lesen ein Kontinuum darstellen und nicht als Gegensätze aufzufassen sind. Denn das leise Lesen stellt lediglich ein verinnerlichtes lautes – oder wie man besser sagen sollte – artikuliertes Lesen dar.“ Er kommt zu dem Ergebnis: „Wer laut liest, ohne zu verstehen, was er liest, wird nur zu einer flachen Artikulation des Geschriebenen finden: Er wird Wörter und Sätze lesen, aber zu keiner differenzierten Sinngliederung des Textes gelangen.“

Darum fordert Lösener auch bis in die Sek II hinein das laute Lesen, denn „Lesen, also die sprechende und hörende Lesetätigkeit, bildet die Grundlage für den Erwerb einer breiten und vertieften Lesekompetenz, (welche dann auch Interpretationsfertigkeiten miteinschließt)“.

Swantje Ehlers[1. Ehlers, Swantje: Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache] hingegen widerspricht (S.115) der These, dass lautes und leises Lesen „identische Prozesse sind“. Der Artikulationsvorgang beim lauten Lesen beanspruche die Aufmerksamkeit des Lesers und könne dafür sorgen, dass wohl richtig intoniert werde, aber das Verständnis des Textes nicht mehr gegeben sei.

Und nun? Wie haltet ihr’s mit dem lauten Lesen im „nicht-szenisch-interpretierenden Unterricht“?

Problemorientierung – blättert das Gold?

(Vor einigen Wochen ging die Meldung durch die Medien, dass ein Angestellter seinen eigenen Job outgesourct hatte. Der hat einfach Chinesen dafür bezahlt, dass sie seine Arbeit machen und hat sich währenddessen einen netten Lenz gemacht. Und manchmal, wenn ich mir die Klassenarbeitsberge anschaue, wünschte ich mir das auch… das ist wirklich der nervigste Teil dieses Berufes. Eigentlich sollte ich jetzt korrigieren, anstatt zu schreiben. Und warum schreibe ich diesen sinnlosen Vorspann? Auf zum Thema!)

Problemorientierung – Segen oder Fluch?
Christoph Pallaske hat vor einiger Zeit eine interessante Frage aufgeworfen: Sollte jede Geschichtsstunde problemorientiert ausgerichtet sein? Ich hatte im Referendariat genau zu diesem Thema einmal hier im Blog die Frage formuliert: „Problemorientierung – in goldenen Lettern an die Wand über den Schreibtisch?“ und dort genau die Position gespiegelt, die Christoph in seinem Artikel in Frage stellt:

Besonders die konkreten Formulierungen für mögliche Unterrichtsplanungen fallen (…) oft schwer. (…) Und die Unzufriedenheit wird dadurch, dass die meisten Schulbücher selbst nur Inhaltsformulierungen vorgeben, nicht kleiner. Gelegentlich spotten Lehramtsstudierende, jedem Inhalt einfach die Formulierung „Fluch oder Segen“ anzuhängen.

Nach wie vor finde ich die Problemorientierung sehr wichtig, um Geschichte nicht einfach als Reihe eine Aneinanderreihung von Fakten zu unterrichten und um zu verdeutlichen, dass Geschichte keine einseitigen Wahrheiten verkündet. Darüber hinaus hilft mir als Lehrer die Problemorientierung dabei, den roten Faden aufrecht zu erhalten und in guten Stunden von einem geeigneten Einstieg über eine Erarbeitungsphase hin zu einer Auswertung und einem Transfer des Erarbeiteten bzgl. des Problems zu kommen und nicht irgendwie im luftleeren (Fakten-)Raum zu agieren.

Schwierig wird es nur an einer Stelle: Wie macht man den Schülern klar, dass da ein „Problem“ besteht, denn warum sollte es Schüler interessieren, ob nun klein- oder großdeutsch, ob der Gang nach Canossa nun demütigender Kniefall oder geschickter Schachzug oder ob die Demokratie der Athener eher Demokratie oder doch  nur eine Ausgrenzung vieler war? Sind doch alle tot, ist doch alles gegessen. „Aber“, wird da der Fachleiter einwerfen, „mit einem guten Einstieg packen Sie die Schüler sofort!“ „Nein“, entgegnet dann z.B. Lisa in den Kommentaren, „der Schüler muss seine eigenen Fragen und Probleme finden!“ – und irgendwo dazwischen stehe ich als Lehrer und habe auf Christophs Fragen und Lisas mehr als nachvollziehbare Forderung am Ende nur dürre Antworten, aber vielleicht hat ja hier noch jemand ein paar gute Ideen? Christophs Blog ist für Geschichtsinteressierte nämlich sowieso immer lesenswert.