„Bildung ist ein Standortfaktor“

Und wir können lernen von all denen, die in den vergangenen, effizienzbesoffenen Jahren besonders out waren: Von den Schülern altsprachlicher Gymnasien zum Beispiel, die ihren marktgetrimmten Altersgenossen immer schlechter erklären konnten, wozu Latein und Griechisch denn gut seien. (…) Von Lehrern, die nicht glauben, dass sie ein Produkt herstellen – sondern, dass sie Kinder erziehen. Von all diesen Menschen könnten auch die Marktradikalen etwas lernen: dass eine Gesellschaft andere Kraftquellen hat und andere Kraftquellen braucht als nur den Profit. (Zeit)

Dabei fiel heute im Seminar wieder das Wort vom „Standortfaktor Bildung“. Bildung scheint für Menschen, die so sprechen, lediglich eine volkswirtschaftliche Ressource wie Kohle und Öl zu sein, die man den entsprechenden wirtschaftlichen Bedürfnissen gemäß heranzüchten und ausbeuten kann. Die Folgen einer solchen Politik sehen wir heute an einer angeblich von Anette Schavan unterdrückten Studie: Fast 20.000 Abiturienten haben sich wegen der Studiengebühren gegen ein Studium entschieden.

Ganz anders die beiden Hauptschullehrer, die heute im Seminar eine Fortbildung leiteten. Diese führten uns Referendaren praxisnah (sprich: sie behandelten uns wie ihre Schüler) vor, wie ein Tag an ihrer Konrad-Adenauer-Hauptschule in den Klassenstufen 5 und 6 aussieht. Ich kann das jetzt nicht in Gänze ausführen, aber diese engagierten Lehrer schaffen es tatsächlich, ihren Schülern einen Projektunterricht im dewey’schen Sinn anzubieten, der ihnen tagsüber weitestgehend über ihren Unterricht Wahlmöglichkeiten lässt, sogar so weitgehend, dass die Schüler die Möglichkeit haben, eine Woche weniger Mathe zu machen, eine andere Woche dafür mehr.

75 Schüler werden von zwei Lehrern betreut. Das Tagesprogramm legen die Schüler selbst in der ersten Stunde fest, indem sich jeder Schüler für einen von mehreren Punkten entscheidet, die ihm an der Tafel präsentiert werden. Die Abstimmung läuft äußerst straff, so wie der ganze Unterricht einem strengen Reglement unterliegt, was uns Referendare einige Mal kräftig schlucken ließ. Bspw. geben die Lehrer vor, wieviele Fragen zu einem Thema gestellt werden dürfen. So müssen dann jeder einzelne der 75 Schüler überlegen, ob seine Frage jetzt wirklich sinnvoll und nicht nur Zeitschinderei ist, denn wenn durch Drömelei eine von maximal drei Fragen verloren geht, ist das eine Möglichkeit, sich ganz schnell unbeliebt zu machen. Klare Zeitvorgaben und keine Kompromisse sind Programm.

Auf der anderen Seite steht die große Freiheit, die die Schüler in ihren Entscheidungen haben. Am Ende stehen Produkte: Filmsequenzen, Baseballkappen, Handwerksarbeiten. Die Schüler in den Filmsequenzen sprechen alle eloquent, machen keinen „unterbelichteten“ Eindruck. Die Fächer finden Verbindung in den Projekten, die man hier sonderbarerweise „Netzwerke“ nennt. Beim Projekt (ich nenne es Projekt :-P) „Fahrzeug“ müssen die Schüler einen Bericht anfertigen, physikalische Grundlagen klären und eine Präsentation ihre Fahrzeuges vorbereiten.

Er hätte keine Bauchschmerzen mehr, seitdem er sich frei entscheiden könne, was er am Tag machen wolle, sagt ein junger Mann. Ich glaube es ihm unbenommen, es klingt nicht gestellt. In die Uni seien sie nun eingeladen worden, erzählen die beiden Lehrer, um ihre Schule vorzustellen. Das wäre ein tolles Projekt, an dem die Schüler schon arbeiten würden.

Das sind sie: Lehrer, die nicht glauben, dass sie ein Produkt herstellen – sondern, dass sie Kinder erziehen.

"1871 war Reichsgründung"

Da war ich erst mal baff. Das saß wie eine Ohrfeige. In einem Aufwasch hatte der junge Mann mir meine Vorurteil vor Augen gehalten und von der Backe geputzt. „1871 war Reichsgründung“, hatte er gesagt, „Und 1914 war der Erste Weltkrieg, da haben die Franzosen Elsass-Lothringen zurückgewonnen.“

„Soso…“, hatte ich gestaunt. Verblüfft, war es doch der gleiche junge Mann, der mich vor wenigen Minuten im Bus noch dazu animieren wollte, ihm die Beat-Box zu machen, während er den „Senne-Rap“ zum Besten geben wollte, bevor ihn eine junge blonde Frau davon abbringen konnte.

„Das ist meine Lehrerin“, meinte er, als sie außer Hörweite war, „Ist ’ne hübsche Lehrerin. Von zehn Punkten gebe ich 8.5. Figur 8 Punkte, Brust 2 Punkte. Soll ich sie mit Ihnen…“ Er zwinkerte mir eindeutig zweideutig zu. Mein Ringfinger rettet mich. Wie sie denn im Unterricht so sei? „Och…“, klang es da, der Slang der dritten Generation unverhörbar, „… so ungefähr ’ne Drei. Ich hab‘ auch nur ’ne Drei minus, hätte sie mir eine Eins gegeben, hätte sie auch ’ne Eins… HEY!“

Ein „Grundschulkumpel“ hat den Bus betreten, die beiden unterhalten sich über irgendwen, der irgendwem mal „übelst“ eins auf die Mappe gegeben hat. Um mich herum sitzen im hintersten Teil des Busses lauter Hauptschüler, alle auf dem Weg nach Hause. Einige, darunter mein junger Beat-Box-Freund, sehen aus als kämen sie vom Sport, da sie Trainingskluft tragen, doch während ich ihre Outfits vergleiche, merke ich, dass das ihre Alltagskleidung ist.

Der Beat-Box-Junge trägt eine Jogginghose, darüber eine Trainingsjacke und ganz obenauf eine Schirmmütze, mit der er immer wieder aufs Neue seine kurzen schwarzen Haare verwuschelt. Die Jogginghose ist an einer Stelle genäht, unwillkürlich schießen mir die Nachkriegsgeschichten aus den Büchern meiner Großeltern durch den Kopf, in denen immer wieder die arme, aber gute, Mutter ihrem Jungen Flicken auf die Hose näht, für die er dann verspottet wird.

Mein Gegenüber wird nicht verspottet, er scheint eher der Anführer zu sein. Die beisitzenden Mädchen kichern, wenn es sein muss, sie staunen, wenn es sein muss, sie bewundern, wenn es sein muss. Die Jungs machen einen auf dicke Hose und der Grundschulkumpel präsentiert sein nacktes Handy-Hintergrundbild, bevor sie daran gehen, sich über die Fettleibigkeit und Oberweite gemeinsamer weiblicher Bekannter herzumachen.

„Sind Sie auch Lehrer?“, fragt er, nachdem der Kumpel ihn an einer Haltestelle verlassen hat. Meine Tasche entlarvt mich. Nach Nennung der Schule kurze Spekulationen, welche Grundschule das sein könnte, bis jemand ihn mit, wie ich finde, leicht gerümpfter Nase aufs Gymnasium bringt.

Sein Blick verschließt sich nicht. Dass ich jetzt rausmüsse, teile ich mit, was zu großen Augen um mich herum führt. „Sie wohnen hier?“ Ja, ich steige tatsächlich aus, nebst einiger der Schüler, die sich von ihrer Lehrerin verabschieden, und schwinge mir die Tasche um die Schulter. „Welche Fächer unterrichten Sie?“

„1871 war Reichsgründung“, erklärt mir der junge Türke, nachdem er herausgefunden hat, dass ich Geschichte und Deutsch unterrichte. Ein türkischer Hauptschüler, der das Datum der Gründung des deutschen Kaiserreiches kennt und mich in groben Zügen über den Werdegang Elsass-Lothringens aufklärt. Geschichte mache ihm Spaß, seine Lehrerin sei gut, weil sie streng aber fair sei – und sie könne gut erzählen. Seine Schulkollegin bestätigt das, Unterricht bei dieser Lehrerin mache viel Spaß, und sie brauche nie jemanden rausschicken oder ins Klassenbuch eintragen. Sie wolle, dass alle den 10B-Abschluss erreichen.

Unsere Wege trennen sich an meiner Wohnungstür. Wortfetzen aus kürzlich abgehaltenen Zeugniskonferenzen schwirren durch meinen Kopf, und ich frage mich, warum wir ohne Not Potential einfach verschenken.

Wer kann, soll wissen, wer weiß, soll können!

Nur Meisterlehrer und Meisterlehrerinnen, die auch das praktische Unterrichten vormachen können, sollten in der Referendarausbildung eingesetzt werden. Alle Lehrerausbildner, ob an der Universität oder in der Praxis, müssen selbstverständlich ihren Referendaren den Unterricht vorführen können, den sie für richtig halten. Dabei wird übrigens herauskommen, dass es kein didaktisches Zauberinstrumentarium gibt, sondern dass jede Persönlichkeit ihren eigenen Weg zum optimalen Unterrichten finden muss – was auch mit den Befunden der internationalen empirischen Unterrichtsforschung völlig übereinstimmt. (Rainer Dollase auf bildungsklick.de)

Ich weise hier einmal auf einen Beitrag von Markus Märkl hin, der mich auf das Interview des unter den Lehramtsstudenten der Uni Bielefeld wohl meistgeschätzten Psychologie-Professors gestoßen hat. Dessen Semsterapparat hat übrigens auch den in Bälde hierauf folgenden Beitrag inspiriert.

Meine Ausbildung ist faktisch nicht vorhanden. Einzig die drei Stunden Ausbildungsunterricht helfen mir weiter und das auch nur vielleicht – je nachdem, welcher Lehrer da unterrichtet. Ansonsten bin ich auf meine autodidaktischen Fähigkeiten angewiesen, muss ausprobieren, verwerfen, vor die Wand rennen, neu Anlauf nehmen und die Kurve kriegen oder mit dem Kopf mitten hindurch.

Glücklicherweise habe ich gerade eine wirklich gute Lehrerin erwischt, bei der man sich gerne ein paar Scheiben abschneiden möchte, auch wenn der Unterrichtsstil möglicherweise ein anderer als der angestrebte ist. Ich habe mir diesmal die Freiheit genommen, mehrere Stunden lang zuzuschauen, was ich mittlerweile für sehr nützlich halte, weil man dadurch auf neue Ideen kommt und lernen kann, wie andere Personen mit Schwierigkeiten umgehen, Material einsetzen oder Disziplinprobleme lösen.

Ansonsten hilft nur trial und error. Auf Kosten meiner und der Schüler.

Brennpunktschulen

Solch drastische Verhältnisse, wie in diesem Spiegel-Artikel geschildert, hätte ich nicht erwartet:

Ich bin wütend auf Schulamt und Ministerium, weil sie Leute wie mich an Brennpunktschulen schicken. Ohne pädagogische Grundlagen, das ist kaum zu verantworten. Für richtige Lehrer ist kein Geld da? Wie kurzfristig kann man denken?

Erschreckend. Wobei ich mir am Ende des Artikels doch die Frage gestellt habe, ob man als Journalist nicht schon von vornherein mit dem Gedanken in die Schule geht, um eine hübsche Story aus der Brennpunktschule zu stricken. Ach Quatsch, das ist natürlich alles psychische Aufarbeitung und wenn man diese zufällig bei einem Magazin wie dem Spiegel publizieren kann…

…irgendwie schmecken mir diese persönlichen Betroffenheitsberichte im Spiegel-Kontext nicht.

Einheitliche Schulbücher

Och… ich finde es gerade im Moment bei meinen Reihenplanungen gut, dass ich hier in mehreren Büchern schauen kann, wie man die Themen in den Büchern unterschiedlich angeht. Natürlich ist der Vorschlag von Anette Schavan erst einmal bedenkenswert, aber ändern wird es nicht viel oder nur wenig. Meine Schwester ist aus NRW nach Bayern gezogen und musste (obwohl eine normalgute Schülerin) ein Jahr zurück, alleine weil man dort unten im gleichen Lateinbuch zwölf Lektionen weiter war.

Ich denke, es gibt dringendere Probleme.

Nachtrag
Ich blöke das hier wie immer unbedarft ins Blog (Kommt „Blog“ vielleicht doch von „blöken“?), anstatt zu fragen, wie das denn die Leute sehen, die schon den ein oder anderen Bundeslandwechsler im Unterricht hatten! Und? Wie seht Ihr das? Sind Schulbücher ein Faktor, der da viel ausmacht?

What’s your vision?

Ich bin kein Fan von Youtube-Videos in Blogeinträgen. Die versauen das Design und erwecken oft den Eindruck, nichts anderes als billige Lückenbüßer zu sein. Heute mache ich eine Ausnahme und verweise auf dieses Video unter CC-Lizenz, das sich insbesondere an Lehrer richtet, auch wenn es zunächst nicht so scheint:

Shift happens

(Wegen Designproblemen doch nur der Link.)

Achtzig Prozent

Über ats20 bin ich drauf gekommen, auf einen Artikel in der ZEIT „Wo die Lehrer sitzenbleiben„. Daraus ein Zitat, auf das man oft stößt, wenn man Artikel über Schule, den hohen Norden und PISA liest:

Heute ist die Elite in der Mehrheit. Von jährlich 57000 Schülern bleiben nur 200 ohne einen Abschluss, 46000 verlassen die Schulen mit Abitur oder Fachhochschulreife. Das sind 80 Prozent eines Jahrgangs, fast doppelt so viel wie in Deutschland.

Das ist schön und möglicherweise sogar auch sehr gut. Achtzig Prozent hört sich nach einer Menge Holz an, nach wahnsinnig guter Arbeit, nach Beschämung für das deutsche Schulsystem, dem ich wohlgemerkt skeptisch gegenüberstehe, auch wenn das im Folgenden nicht so klingen mag.

Es ist die Tatsache, dass man Abitur und Abitur in der Presse einfach so nebeneinanderstellt. Hier das eine, dort das andere; hier dreißig Prozent, dort achtzig Prozent. Was die Worthülse „Abitur“ aber inhaltlich bedeutet, welche Unterschiede inhaltlicher Art gemacht werden, sprich: welche Qualität das Abitur letztlich hat, davon spricht niemand. Auch die strukturellen Unterschiede werden ausgeklammtert. Einfach ein paar Zahlen in den Artikel – peng – Klappe zu, Affe tot. Das ist mir, bei allem Interesse an einem integrierenderen Schulsystem, dann doch zu einfach.

Gleiches bei den oft bemühten Vergleichen der Anzahl der Studierenden. Ein Seminarleiter wies uns darauf hin, dass man in – war es nun Schweden oder Finnland – für Berufe ein Studium aufnehmen müsse, die man hier mit einer Ausbildung abdecke. Wenn unsere Krankenschwestern und Erzieherinnen studieren würden, sähen unsere Studierendenzahlen auch anders aus. Um ein wirklich vergleichbares Ergebnis zu bekommen, müsste man diese Statistiken erst entsprechend bereinigen.

Bei allem, was da oben besser laufen mag, aber bei solch einfachen Vergleichen werde ich immer skeptisch, solange ich nichts genaues weiß.