Introvertiertheit als Strafe, so kommt es mir oft vor, wenn man auf einschlägigen Nachrichtenseiten die Rubrik „Karriere“ beobachtet oder sich die Eigenschaften anschaut, die Personalchefs für geeignete Kandidaten des Arbeitsmarktes anlegen. Das gilt meiner Beobachtung nach auch für den Schulkontext. Nicht alle Eltern scheinen es zu mögen, wenn man ihr Kind als „still“ oder eben „eher introvertiert“ charakterisiert, lieber wäre einigen doch ein extrovertiertes, lautes Kind. Extrovertiertheit steht für Durchsetzungsvermögen, für Auf-den-Tisch-hauen, für Präsenz. Introvertiertheit wird gegenteilig bewertet: mit Attributen wie Langweiligkeit, Rücksichtnahme, Unscheinbarkeit.
Doch der heutige FAZ-Artikel mit dem Titel „Die Stillen haben viel zu sagen“ nimmt sich der Stärken der Introvertierten an (und ich spare mir hier das müßige Aufzählen). Vieles (und ich zähle mich schon lange zu den eher introvertierten Menschen) finde ich bei mir selber wieder: Ich schreibe lieber, als zu reden (q.e.d.), ich gehe oft behutsam vor und bin meist kompromissbereit. Ich meide großen Trubel, viele Menschen und habe nichts dagegen, auch mal mit mir selbst allein zu sein. Das beißt sich nicht mit meinem Beruf: Referate, ob nun im Leistungskurs oder vor mehreren hundert Personen im Hörsaal, waren nie mein Problem; der tägliche Unterricht, Elternabende, Bandauftritte, Theaterspiel – all das bereitet mir keine Probleme. Aber eine Partyrunde bespaßen, im kleinen Kreis dick auftragen, Witze erzählen, Smalltalk führen – ich hasse solche Situationen. Das trifft der Artikel ganz gut, dass Introvertiertheit nicht gleichzusetzen ist mit Schüchternheit, aber lest lieber selbst. Bleibt nur noch eine Frage:
Was ist eigentlich mit den Schülern? Was machen wir mit Schülern, die eher still sind, lieber schreiben als sich durchzuquatschen, und die nur ungern lautstark vor anderen Schaum schlagen? Wo ist deren Platz in einer Schule, in der permanent präsentiert und geredet wird?
(Was mir am FAZ-Artikel gar nicht gefällt, ist der überflüssige Steinzeit-Vergleich, der heutzutage aber zu jeder guten Weltanschauung dazuzugehören scheint. Wäre auch mal ’nen Artikel wert.)