Die Klassengröße: Der Output ist’s, was zählt

Bei Spiegel Online gibt es heute einen Faktencheck mit dem offiziellen Titel „Schul-Klischees im Faktencheck: Kleine Klassen lernen besser – oder doch nicht?“ online gestellt. Der inoffizielle Titel (in der Browserleiste bzw. im Tab) gibt schon indirekt die Antwort „Lehrer klagen über zu große Klassen: Wie groß sie tatsächlich sind“.

Das Ergebnis des Spiegel-Faktenchecks zum Thema Klassengröße lautet zusammengefasst, dass diese in Deutschland keinen wesentlichen Einfluss auf die Leistung der Schüler habe und die Klassengröße als Faktor für Veränderung vernachlässigbar und überdies teuer sei. Außerdem sinke die Zahl der Schüler, durchschnittlich seien an Gymnasien Klassengrößen von 26 Schülern Standard. Der Grund für das permanente Fordern kleinerer Klassen sei politisch motiviert, „[d]enn sowohl Lehrer als auch Eltern mögen kleine Klassen“ (Spon).

Meine Fakten
Von einer „gefühlten Wahrheit“ schreibt die Autorin und imitiert die klagenden Lehrer: „Oh Gott, so viele Schüler!“. Wäre sie der Realität etwas näher, wüsste sie, dass große Klassen keinen Lehrer schocken. Eher heißt es erfreut: „Oha, wie wenig Schüler!“, wenn man eine der wenigen kleineren Klassen unterrichten darf. Aber der Reihe nach. Denn es mag statistisch ein Fakt sein, dass die durchschnittliche Klassengröße an Gymnasien nur 26 Schüler beträgt. Mein Fakt dagegen ist, dass ich täglich vor Klassen mit dreißig und über dreißig Schülern stehe. Und das hat Auswirkungen und zwar recht konkrete.

Lebensraum Schule
Schüler verbringen immer mehr Zeit in ihrer Schule. Ganztagsangebote sind mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme und die Schüler sollten, so die hehren Ziele, ihre Schule als „Lebensraum“ begreifen. Und jetzt wünschte ich mir, würden die Experten nicht nur auf Datenbanken der statistischen Landesämter zurückgreifen, sondern aus ihren journalistischen und universitären Elfenbeintürmen heraus einmal mit einem Zollstock und einem Bleistift in meine Klasse kommen und nachmessen, wieviel „Lebensraum Schule“ da pro Schüler vorhanden ist. Und zwar nicht faktisch-statistisch, sondern de facto. Abzüglich von Tischen und Taschen. 30 oder 26 Schüler machen da einen gewaltigen Unterschied. (Und wenn einer der Experten sich ein Fleißkärtchen verdienen will, darf er/sie gerne mal versuchen, in einer 32er-Klasse einen ordentlichen Sitzkreis zu bilden…)

Je größer die Klasse, desto größer auch Lärm, Trubel und Hektik in den Pausen – und natürlich auch das Potenzial für Aggression. Für stille Schüler gibt es kaum Rückzugsmöglichkeiten, bei schlechtem Wetter müssen vollgestopfte Klassenräume Kindern, die sich auch mal Ruhe wünschen, Folterkammern gleichen.

Das Lernen
Eine Beobachtung teile ich: Die Klassengröße hat keinen Einfluss auf das Lernen der Schüler. Gute Schüler lernen auch in einer großen Klasse gut. Doch was ist mit den Schlechten? Was ist mit dem Paradigma des Lehrers als „Lernbegleiter“, was mit dem der immer wieder geforderten Selbstständigkeit der Schüler, dem des entdeckenden Lernens oder dem der individuellen Förderung? Es dürfte auch für Experten nicht schwer nachzuvollziehen sein, dass es im Alltag einen großen Unterschied macht, ob ich als Einzelperson 20 oder 30 Schüler individuell zu betreuen versuche; dass es einen Unterschied macht, ob ich pro Klasse 20 oder 30 Klassenarbeiten korrigiere, kommentiere und Fördermaterial dazu heraussuche. Es macht schlicht einen Unterschied, ob ich in 90 Minuten 32 oder 26 Schülern meine Aufmerksamkeit schenken kann. Das können Experten auch ohne Studien einfach ausrechnen.

Wie soll ich mit 32 Schülern eine sinnvolle Gruppenarbeit organisieren, bei der die Gruppen nicht zu groß sind und bei der es immer nur so viele Gruppen gibt, dass auch jede sinnvoll ihre Ergebnisse präsentieren kann? Kleine Gruppen führen zu langen, langweiligen Präsentationsphasen, große Gruppen führen entweder zu unterbeschäftigten Schülern und / oder überkomplexen Arbeitsaufträgen. Das mag die Experten nicht interessieren, aber das ist für doofe klagende Lehrer Alltag. Und ja: Bei 26 Schülern ist Gruppenarbeit schon wesentlich leichter und bei nur 12 Schülern mache ich sogar heimlich Jubelsprünge!

Output, Output über alles
Der Spiegel-Faktencheck, dessen Ziel es angeblich ist, „Schul-Klischees“ auf die Spur zu kommen, zeigt eher, wie der journalistische Bildungsdiskurs hier in Deutschland leider immer noch funktioniert: Sich endlos wiederholende Klischees über klagende (offensichtlich in einer journalistischen Zeitschleife aus Einfallslosigkeit und Verbenarmut gefangene) Lehrer plus Wahlkampfversprechen irgendwelcher Politiker, und in Wirklichkeit ist alles heiße Luft. Die sollen sich mal alle nicht so anstellen. Mund abwischen, weitermachen. Dazu gesellt sich eine reine Outputfixierung, was zählt ist die ominöse „Leistung“. Die Arbeitsbedingungen der Schüler interessieren ebenso wenig wie die der Lehrer, die Sorgen der Eltern sind schlicht zu vernachlässigen. Ob Schule ein Ort ist, an dem Kinder sich wirklich wohlfühlen können, interessiert im Faktencheck weder Experten noch Journalisten. Unterricht wird nach wie vor als das frontale Verklappen von Stoff gedacht, der sich gleichermaßen über alle Schüler zu ergießen hat.

Schade eigentlich, dass der Faktor „Klassengröße“ so eindimensional gedacht wird. Chance verpasst.

7 Gedanken zu „Die Klassengröße: Der Output ist’s, was zählt

  1. Danke für die ausführliche Gegendarstellung (zu der ich schon gar keine Lust mehr hatte), die ich so unterschreibe.

    Auch wird in solchen Artikeln gern davon ausgegangen, dass Aussagen der Lehrkräfte unerheblich seien. Das Faktum, dass das Unterrichten in einer kleineren Klasse für Lehrkräfte meist angenehmer ist (mehr Zeit für die einzelnen S, allgemein geringerer Lärmpegel, weniger Störungen (die Vorrang haben), Möglichkeiten, methodisch zu variieren etc.), wird mit statistischen Aussagen beiseite gewischt, also ignoriert.

  2. Pingback: Mal wieder: Klassengrößen. | ats20.de

  3. Nur gut, dass ich deinen Blog abonniert habe und nicht selbst drauf gestoßen bin. Habe mir dann wohl einiges an innerer Unruhe erspart.
    Ich stimme dir vor allem am Ende zu, wenn du formulierst, dass es offensichtlich ein journalistisches Problem ist. Die Eltern, mit denen ich in Kontakt trete, sehen nämlich durchaus, dass ihre Kinder unter bestimmten Voraussetzungen in großen Klassen untergehen – aber dafür habe ich und brauche ich auch keine Studie, mit der sich eine gute Schlagzeile machen lässt.
    Die Hattie-Geschichte schlägt dann aber ja dieselbe Richtung ein und das, was ich so im Abriss gelesen habe, widerspricht auch mancher Erfahrung, die ich persönlich mache – aber nun, ich führe keine Studien durch.
    Mir fiel bei deinen Ausführungen die Diskussion über das Sitzenbleiben ein, die vor einigen Wochen durch die Landschaft geisterte – und einen Schulleitungskollegen von mir zu der Äußerung hinreißen ließ: „Gebt mir 10 bis 15 Lehrer mehr an die Schule und es bleibt kein Schüler mehr sitzen.“

    • Hier wird Hattie umgekehrt interpretiert: Ein guter Lehrer unterrichtet auch große Klassen super:

      Wenn statt 40 plötzlich 80 Schüler gemeinsam lernen müssten, könne die Leistung zwar sinken. Doch in Deutschland bewege sich die Klassengröße überall in einem Rahmen, in dem ein paar Schüler mehr oder weniger keinen großen Unterschied machten, sagt Wößmann.

    • Aber wollte Hattie nicht nachgewiesen haben, dass eine Reduzierung der Klassengröße einen geringen Effekt auf die Qualität hat – oder komme ich da grad nicht mit meiner Logik hinterher?

  4. Ich stimme zu: Die Klassen sind zu groß. Auch die in der Studie zitierten 26 Schüler/-innen (der Durchschnitt kommt zustande, indem größere Klassen mit kleineren aufgerechnet werden – für jede 16-Kinder-Klasse muss es also eine 36-Kinder-Klasse geben) sind noch zuviel, um Lernstoff nicht nur mit Spaß, sondern wirklich sinnvoll zu vermitteln. Denn eine Schulklasse besteht normalerweise nicht aus lernbegierigen, motivierten und in der Freizeit voll körperlich ausgelasteten jungen Erwachsenen, sondern aus gelangweilten, überforderten, zum Stillsitzen verdammten neugierigen Kindern. Um es mal harsch zu formulieren: Wollte man die gleiche Anzahl Hunde für sechs bis zehn Stunden täglich in ein durchschnittliches (oder auch luxuriöses) deutsches Klassenzimmer stecken, hätte man eine Anzeige wegen Tierquälerei am Hals. Und das zu Recht. Warum tun wir das unseren Kindern an, die in einem artgerecht gestalteten und ausreichend großen Umfeld bei entsprechender Betreuung viel besser lernen könnten? Die Schule sollte sich den Bedürfnissen der Kinder anpassen, nicht umgekehrt. Und das schreibe ich als Mutter und freiberufliche Lehrerin für Kinder und Erwachsene.

    Ich muss hinterherschieben: Es ist alles nicht so einfach. Denn natürlich kann die ideal ausgebildete Lehrkraft bei idealer Lernstoffanforderung und ideal motivierten Kindern auch in kleinen Räumen mit vielen Kindern auskommen. Aber wo gibt es ideale Situationen? Im Alltag ist man als Lehrkraft froh, nicht alle drei genannten „Ideale“ mit „Katastrophe“ ersetzen zu müssen, sondern gelegentlich ein „normal“ einschieben zu dürfen. Danke an die Lehrpläne, das Budget für den Ausbau von Schulen, für die Vergütung von Lehrleistung, für die Ausstattung mit Lehrmaterialien, danke auch Pisa-Studie, Bologna-Reform und den Journalismus, der zwar gerne Schlagzeilen macht – auch wenn die wie alte Schlagsahne sauer schmecken und in sich zusammenfallen. Von der Integration beeinträchtigter Schüler/-innen in normale (siehe oben) Klassen will ich an dieser Stelle schweigen.

    Vielleicht läge ein Lösung darin, keine Referendare auszubilden. An die Stelle eines Referendariats könnte eine mehrjährige Lehrassistenz treten, die die „richtigen“, also erfahrenen und fertig ausgebildeten Lehrkräfte in den Klassen unterstützt. Das würde den angehenden Lehrkräften gut tun und für qualitativ höherwertigen Unterricht sorgen, allein durch den besseren Betreuungsschlüssel. Und es würde die Lehrkräfte entlasten. Das Budget würde es verkraften, denn andere, wenig greifende Posten würden wegfallen. Na, da hab ich wohl wiedermal im Unterricht geträumt …

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