Oh je, ich sehe schon, wie die ersten Leser sich peinlich berührt abwenden, Zornes- oder Schamesröte im Gesicht, und sich denken, jetzt spinnt er völlig. Jetzt hat der Quotenkampf auch „Kreide fressen“ erreicht, schamlose Titel sollen billig Leser locken. Gemach, gemach, werter Leser, alles wird gut.
Die Idee zu diesem Titel kam mir, als ich vor einigen Tagen einer Diskussion im Radio folgte, bei der ein Sprachwissenschaftler auf den alten Hut verwies, dass das Wörtchen „geil“ so reizvoll sei, weil es auf die Alten abschreckend wirke, da die den alten Bedeutungskontext noch kennen würden und dass die jungen Leute sich gar nichts Schlimmes dabei dächten. Überhaupt seien gerade zur Verdeutlichung besonderer Begeisterung immer schon genau die Begriffe verwendet worden, die eigentlich das Gegensätzliche besagen. So weit, so gut.
Als Beispiel führte er dann das eigentlich negativ denotierte Wörtchen „irre“ an. Aber wenn man sagt, „der oder das sei ja irre gut“, dann würde man mit dem Adjektiv „irre“ eben genau das Gutsein sprachlich verstärken. Und dann nannte er noch ein solches Wörtchen und mir kam gleich die Idee zu dieser schamlosen Überschrift: Er nannte das Wörtchen „toll“.
Was für ein Riesenbrett muss ich vor dem Kopf gehabt haben, um nicht schon vor fünfzehn Jahren gemerkt zu haben, dass das Wort „toll“ durchaus zwiespältig zu sehen ist; dass es eben gar nicht schön ist, im „Tollhaus“ zu stecken, weil man ein paar „Tollkirschen“ zu viel zu sich genommen hat. Oder gar von der „Tollwut“ befallen zu sein, weil man sich idiotischerweis „tollkühn“ einem frechen Fuchs in den Weg gestellt hat – aber unter unzählige Kinderaufsätze schreiben die Grundschullehrerinnen in schönster vereinfachter Ausgangsschrift: „Das hast du toll gemacht!“
Tja, und wenn das bei „toll“ schon so gut geklappt hat, warum sollten die Grundschullehrerinnen dann nicht eines Tages einfach unter die Aufsätze schreiben: „Geil!“?
Sehr gut möglich, dass das so kommt. Ein viel älteres und deshalb nicht so anschauliches Beispiel kann ich noch anbieten: das „sehr“ in „sehr gut“ bedeutet ursprünglich „schmerzhaft, schmerzlich, wund“ . Man konnte ursprünglich nur „sehr verwundet“ sein oder vielleicht noch jemanden „sehr vermissen“. (Im Englischen heute noch: sorely missed.) Reste gibt es heute noch in „(un)versehrt“.
Danke Herr Rau. War mir das Wörtchen „toll“ bewusst und bekannt, wäre ich bei dem Wort „sehr“ niemals darauf gekommen, dass es ebenfalls ursprünglich negativ behaftet war. Danke
Alles schöne Beispiele, die verdeutlichen, dass man sich in der Alltagssprache (zumindest als nicht-Germanist) meist recht wenig Gedanken über die Verwendung von Wörtern macht.
Bei „geil“ war mir die Bedeutung auch geläufig, für „toll“ konnte ich sie mit Nachdenken auch erkennen, die Sache mit „sehr“ allerdings überhaupt nicht. Gleich mal wieder das etymologische Wörterbuch durchblättern. Eigentlich total spannend! 🙂
Noch ein Beispiel aus meiner Kindheit: Die Eltern verwendeten kritiklos „bis zur Vergasung“, mir ist erst später aufgefallen, was sie da eigentlich gesagt haben und habe mich dann furchtbar geschämt.
Die ursprüngliche Bedeutung von „sehr“ war mir auch bis heute unbekannt! Toll! Da muss ich gleich an Saussures Beliebigkeit denken – alles kann alles bedeuten.
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