Paul McCartney gibt am 18.10.2013 ein “impromptu concert (…) during the lunchtime rush†(BBC) im Londoner Stadtteil Covent Garden. Hätte er seinen Gig einen Tag vorher angesetzt, hätten wir sehr gute Chancen gehabt, ihn dort zu erleben – freitags jedoch befanden wir uns schon auf der Heimreise von einer eindrucksreichen Kursfahrt.
Zwischen Hobbits und Schornsteinfegern
Die Eindrücke waren umso einprägsamer, als es sich um meine erste Reise nach England handelte. Wir reisten im Bus, setzten ganz klassisch bei Calais nach Dover über, wo ich endlich einmal die von Eric Johnson gitarristisch interpretierten cliffs of dover bewundern konnte. Hat man die Klippen hinter sich, folgt das Hobbit-Land: Sanft geschwungene Hügel, kariert von roh geschichteten Steinmauern und bewandert von majestätischen Baumgruppen, denen das weiche Gras auch die letzte Härte nimmt, machen dem Kontinentaleuropäer deutlich, woher J.R.R. Tolkien Inspiration für seine fantastischen Geschichten gewinnen konnte.
Wirkt die Landschaft wie Tolkien, so die Vorstädte Londons eher wie Harry Potter mit einem Gutteil Mary Poppins. Gleichförmige Reihenhausreihen reihen sich aneinander, eins ans andere, Treppe um Treppe, Erker um Erker, Schornstein um Schornstein, schmal um schmal. Die Fassaden vernachlässigt, blätternder Putz, die dünnen Fensterrahmen lassen beim Zuschauen frösteln. Rote Backsteine erzählen vom Mutterland der Industrialisierung. Schmale Geschäfte drängen sich eng an die Straße, Zahnarzt neben Versicherungsmakler neben Friseur. Bunte Werbung an den Fassaden, schwarze Pubs laden zum süßlichen Ale. Aus den Kaminen könnte jederzeit eine Kompanie tanzender Dick van Dykes springen.
Mitten im Cocktail
Vorwiegend sollen wir uns jedoch in London aufhalten, wo wir im Stadtteil Peckham in einem Hostel unterkommen. Auch ohne den Guide, der uns später im Bus ein wenig durch London führt und der sich über das deutsche Wort „multi-kulti“ amüsiert, merkt man schnell, dass London ethnisch weitaus vielfältiger ist als deutsche Städte. In unserem Stadtteil ist die schwarze Minderheit auffälliger, in anderen Gegenden tummeln sich mehr arabisch wirkende Menschen. Gänzlich eigentümlich wirkt China Town, in das man gelangt, wenn man am M&M-Store links abbiegt. Hier durchschreitet man eine ethnische Grenze, markiert durch rote Lampions, die über die Straßen gespannt sind. Asiaten bevölkern erst ab hier die Straße, exotische Auslagen beschriftet mit unlesbaren Zeichen weisen auf eine andere Welt mitten in London. Ist das nun Touristennepp oder haben wir aus Versehen Gleis 9¾ durchschritten?
Auf der Suche nach einem Café passiert es, dass wir plötzlich von Männern und Frauen in Anzügen und Kostümen umgeben sind – Tea Time nahe des Bankenviertels. Gleichgraue Rechenklone reichen sich die Klinke, greifen sich eingeschweißte Nahrung aus einem Kühlregal, während nur wenige Schritte weiter Touristen und Junkies ihre Welt erkunden. Die elegante Millionärin stöckelt dem Rucksacktouristen durchs Themse-Foto, der Bettler hockt in Demutshaltung auf dem Boden, Arbeiter ziehen grölend daran vorbei. London gleiche einem geschichteten Cocktail, so unser Stadtführer. Die eleganten Regenschirme im Hazelwood-House leisten sich wohl nur die oberen Schichten dieses Cocktails: 185,00 Pfund sind ein stolzer Preis für einen Regenschirm.
Food
Gefürchtet ist das englische Essen, gelobt das british breakfast. Wir erleben weder das eine noch das andere. Zum Frühstück versammeln wir uns in einem blaulichtgekühlten Keller. In einer Ecke stehen Cornflakes, Toastbrot, Butter und Marmelade. Ich nehme mir Toast mit Butter und bleibe die restlichen vier Tage dabei. Der Kaffee schmeckt nach Instantpulver. Das Thermometer an der Wand zeigt 24 Grad, und ich sehe zu, dass ich aus der Sauna schnell herauskomme. Ansonsten präsentiert sich England kulinarisch vorzüglich. Keine Spur von schlechtem Geschmack oder mangelnder Kochkultur. Das Restaurant von Jamie Oliver lassen wir links liegen, ein kleines asiatisches an der Themse bietet gutes Essen, und einen anderen Abend quetschen wir uns in ein kleines Lokal, geführt von einem englischen Liebhaber thailändischer Küche und europäischer Weine. Die unbegründete Bitte der Kollegin nach einem Salzstreuer wehrt der Chef charmant ab, sie solle doch zunächst das leckere Essen abwarten. Auch im dem Hostel nahegelegenen Pub gibt es gutes Essen, einfaches Fast-Food, aber lecker und günstig.
Mitten in London. In einem Restaurant mit Wohnzimmerambiente bietet eine Köchin Küche für Mutige an: Es gibt keine Karte, gegessen wird, was auf den Tisch kommt.
Die Sitte, dass der Gast auch im kleinsten Café von einer Servicekraft abgeholt und zu seinem Platz geleitet wird, sollte man in Deutschland auch einführen.
Verkehr
Während der MDR in Leipzig die Völkerschlacht wiederaufleben lässt[1], kämpfen wir mit dem britischen Verkehr. Radfahrer sind die natürlichen Feinde der Busfahrer und die Fußgänger Londons kennen keine Ampelphasen; sie gehen, wenn es ihnen gefällt. Das berühmte Albumcover der Beatles, die lachend über einen Zebrastreifen spazieren, gewinnt eine neue Dimension hinzu: Teufelskerle, diese Beatles. Wegen des Linksverkehrs müssen wir beim Überqueren einer Straße erst nach rechts schauen, woran uns die fürsorglichen Briten an fast jeder Kreuzung erinnern: look right. Trotz des mörderischen Verkehrs ist das Verhältnis zwischen Busfahrern und Passagieren sehr entspannt. Die Fahrt Verzögernde entschuldigen sich mit einem “Sorry, driver!†und der Busfahrer wartet sehr geduldig, während ich versuche, mich im Gewirr des englischen Kleingeldes zurechtzufinden, und zeigt mir, welche Münzen ihm noch fehlen. Man sollte der britischen Notenbank beizeiten mitteilen, dass übergroße 2-Pence-Münzen meist unnütz die Sicht auf den Rest des kleineren Münzgeldes versperren. Empfindlich sein sollte man nicht, was das Telefonieren in öffentlichen Nahverkehrsmittel angeht, denn mindestens die Hälfte aller Teilnehmer quatscht laut und unbefangen ins mobile phone.
Okkupation der Kräne
Architektonisch ist London ein einzigartiges, aber auch wild zusammengewürfeltes Sammelsurium aus allem und jedem. Jahrhunderte alte Bauten treffen auf moderne Hochhaus-Glasfassaden und schrille Werbung auf Riesenbildschirmen ringt um Aufmerksamkeit mit alten historischen Denkmälern. Als seien sie von Außerirdischen eingepflanzt, wirken die riesige Glaskuppeln und die in den Himmel weisende Türme. Wie gierige Finger krümmen sich Kräne quer über das ganze Stadtbild, im Dunkel erscheinen sie drohend rot leuchtend, einarmige Besatzer der Stadt. Die Lichter über den Brücken spinnen ihre regelmäßigen Netze, Fassaden verbrennen Autos.
Ein wenig enttäuscht bin ich vom British Museum, das sich als eine große Verwahrkiste für Funde aller Art präsentiert. Doch der Eintritt in die Londoner Museen ist kostenlos, so können wir ohne schlechtes Gewissen die Herbstsonne genießen. Ich treibe mich gerne lange und ausgiebig in Museen herum, aber die Stadt lockt diesmal mehr. Zwei Führungen dürfen wir erleben, einmal im Globe und einmal bei der Stadtrundfahrt im Bus. Beide Male haben wir das Glück humorvolle Führer zu erwischen, der Herr aus dem Globe verdient sich sogar das Prädikat „grandios“. Um uns herum beten alte Herren stumpf ihren Text herunter, unser Guide dagegen bindet – optisch ganz nah an Jim Carrey – die Schüler direkt ein, ermutigt zwei Jungs in der Tradition Shakespeares zum Kuss (was die natürlich verweigern) und erweckt das Theater im alten Globe sehr plastisch zum Leben.
Oxford und Bath. Die Welt ist klein.
Eine Tagestour nach Oxford und Bath beginnt mit nassen Füßen. Meine alten Geox sind nicht mehr das, was sie mal waren. Am Ende sind sie völlig durchnässt und ich ärgere mich. Auf der Suche nach etwas Essbarem finden wir in Oxford ein kleines Café. Der Besitzer entlarvt uns gleich bei der Bestellung als Deutsche. Wo wir denn herkämen? Umständlich nähern wir uns von Düsseldorf und Köln dem Kern von NRW und versuchen so gut es geht… ob wir denn Rinteln kennen würden? Oha, natürlich das ist ja nicht so weit von Bielefeld… ach! Bielefeld – da hätte man gerne geshoppt während der Zeit als Soldat, wo doch schon der Vater als Soldat in Deutschland…
Klein ist die Welt. Der ehemalige Soldat ist äußerst freundlich und serviert uns sehr leckere Baguettes mit Kartoffel-Chips und einem essigsauren Salat. Ein Bild hängt schief. Das scheint hier so üblich. Im Hostel muss ich mich schon beherrschen, um nicht alle schief hängenden Bilder in der Lobby geradezurücken.
Zum Glück wechselt das Wetter. Als wir in Bath ankommen scheint die Sonne und vergoldet uns einen wundervollen Park, den wir leider nicht betreten dürfen. Wir genießen die Sonne und meine Schuhe trocknen wieder.
Oxford Street und Covent Garden
Am letzten Tag besuchen wir die Oxford Street, die uns bald zu viel wird. Wir begeben uns in die Seitenstraßen und finden ein kleine Räumlichkeit, in der gebrauchte Bücher bereitstehen. Nicht zum Kaufen, nicht zum Leihen, man kann sich einfach hinsetzen und lesen. Ansonsten sind die Geschäfte hier teuer, nur vor der Primark-Fassade sitzen Menschen und stapeln die vollgepackten Einkaufstüten um sich herum. Bei Hollister stehen sie schon vor der Tür Schlange. Wir betreten, verlockt durch die einladende Fassade, einen Blingbling-Markenstore und fühlen uns von einer Übermacht gelackter und geleckter Verkäuferinnen belauert. Unrasiert, die Haare zum Zopf gebunden und mit einem alten Bundeswehrrucksack auf dem Rücken (wenigstens die alten Geox habe ich nicht an) dringen wir kurz durch diese andere Welt, um dann wieder auf der Oxford-Street ins Getümmel abzutauchen. Wir beenden den Tag in Covent Garden, wo wir uns für die Abfahrt rüsten und in einem der zahllosen „Pret a manger“-Stores Verpflegung kaufen.
Rückfahrt von Donnerstag bis Freitag. Paul McCartney gibt ein kostenloses Konzert, derweil wir nach vier Tagen England mit unserem Bus wieder das Festland erreicht haben. Mir ist es, als hätte ich nur die Nasenspitze ins Wasser getaucht.
- Was für eine dämliche Idee. Was stellt man als Nächstes nach? Der Überfall auf Polen? ↩
Paul McCartney hat eine neue Platte gemacht, „New“, die klingt wie die Beatles: Einfach schön.
Zum Essen: I disagree. Englisches Essen in Familien oder in traditional pubs ist superb.
Ja, ich freue mich auch wieder auf England. Aber erst in der Rente.
Das Cover gefällt mir, in die Stücke selber habe ich noch nicht hineingehört. Das traditionelle, typische(?) Essen in England ist mir leider entgangen.
Schade!
Oh wie schön. Ich bin ja gern und öfter mal in England. Das Essen ist tatsächlich gut, nur Italienisch, das können sie gar nicht. Ansonsten: so kenne ich England auch, ja.
Nachstellen der Völkerschlacht: ach, ich weiß nicht. Das Nachstellen ist doch eine schöne internationale Zusammenarbeit. Ich wusste gar nicht, dass es hier eine Reenactment-Szene gibt – ob die das auch so ernst nehmen wie in den USA?
Beneide euch Sprachen-Kollegen um eure mehr oder weniger regelmäßigen Auslandseinsätze. Ich muss auch unbedingt mal richtigen Urlaub in England machen.
Reenactment finde ich auch nicht schlimm – in Detmold gab es einmal eine tolle Steinzeit-Ausstellung mit Darstellern, die sehr geübt und gekonnt mutmaßliche Alltagshandlungen der Steinzeit mit Aha-Effekt nachstellten, aber muss es ausgerechnet die Völkerschlacht sein? Das ist doch nur Spektakel mit viel Geknalle, Bier und Bockwurst und einer gehörigen Portion nationaler Glorifizierung. Und zwar ziemlich unreflektiert, wenn ich das richtig überschaue. Leider war ich in der Woche ja nicht da und konnte mir das nicht ansehen.
Stimmt.
Italienisch essen ist gruselig.
Pakistanisch dafür umso besser.
Ach, und es gibt göttliche Fish&Chips Shops.
Paul McCartney hat mal bei mir in der Stadt ein Konzert gegeben. Der hat doch mal ganze 29 Lieder gespielt…