Einbildungskraft

Ich bin gerade in einem Forum über einen Satz gestolpert, der Robert Schumann zugeschrieben wird. Nein, falsch. Vielmehr bin ich über ein Wort gestolpert, nämlich über das Wort „Einbildungskraft“, dem Schumann eine völlig andere Bedeutung beizumessen scheint als ich. In meiner kleinen und beschränkten Welt bedeutet Einbildungskraft die Fähigkeit, sich im negativen Sinne etwas vorstellen zu können, sich Fähigkeiten oder Ergebnisse zuschreiben zu können, die faktisch in der realen Welt keinen Bestand haben. Einbildungskraft ist Phantasterei. Robert Schumann hat das womöglich anders gesehen:

Nicht allein mit den Fingern mußt du deine Stückchen können, du mußt sie dir auch ohne Clavier vorträllern können. Schärfe deine Einbildungskraft so, daß du nicht allein die Melodie einer Composition, sondern auch die dazu gehörige Harmonie im Gedächtnis festzuhalten vermagst. (Aussensaiter)

Und wenn man dann mit aufgeschlagenen Knien hinter dem Komma auf dem Boden kauert, kommt man ins Grübeln. Welches Verständnis von Einbildungskraft offenbart denn hier der alte Schumann? Sie ist keinesfalls negativ angehaucht, meint nicht das ziellose Phantasieren; vielmehr strotzt sie vor nachahmungswerter Semantik: Sie soll geschärft, also ausgebaut, trainiert werden, sie ist für Schumann eine notwendige Fähigkeit, um ein guter Komponist zu werden.

Betrachtet man das Wort genauer, so steckt insbesondere für Lehrer eine Menge darin. Aktives Lernen umschreibt dieses Wort, indem es die „Kraft“ betont, was Anstrengung und – wiederum- Übung impliziert. Gleichzeitig ist Kraft bei gutem Training etwas, worauf man aufbauen kann, das einem den Umgang mit den Dingen erleichtert, wenn sie einmal gut trainiert ist. Doch was soll da so kraftvoll genutzt werden?

Es ist die „Einbildung“, die Möglichkeit, sich ein Bild im Kopf zu schaffen, sich etwas Abstraktes einzuprägen, ein Abbild im Kopf zu kreieren. Einbildungskraft in diesem Sinne meint etwas ähnliches wie Merkfähigkeit, umschreibt eine Begabung, nicht die überhebliche Kraft, sich Utopisches anzumaßen, sondern beschreibt die Fleißarbeit sich etwas einbilden zu können und das nicht passiv im Sinne von Auswendiglernen, sondern aktiv. Der Komponist muss in der Lage sein, sich im Kopf Dinge dazuzudenken, das vorhandene Bild auszubauen, kraft seiner geübten Fähigkeit alleine kognitiv Bilder zu kreieren, Neues zu schaffen. Es geht also bei einer in diesem Sinne verstandenen „Einbildungskraft“ nicht um Hirngespinste oder fixe Ideen, sondern um eine „harte“ Fähigkeit, nämlich darum, seine Phantasie – für die Harten auch: kognitiven Möglichkeiten – aktiv und produktiv zu nutzen.

Hat man sich dann den Dreck von der Hose geschlagen und die schmerzenden Knie ausgeschüttelt, könnte man auf den Gedanken kommen, dass man Schülern unbedingt diese Einbildungskraft vermitteln muss. Einbildungskraft – ein guter Vorschlag für ein kompetenzorientiertes Curriculum?

2 Gedanken zu „Einbildungskraft

  1. Lieber hokey,
    wenn es Dir nicht nur darum geht, etwas zu vermitteln; wenn Du es aushältst, zu erkenne, daß gerade Utopien ohne Einbildungskraft sein müssen; wenn Du keine Angst davor hast, unzeitgemäß zu sein (dies ist das Schwerste); wenn Du also w i r k l i c h etwas über Einbildungskraft wissen willst – dann versuche Rudolf Kassner, beispielsweise sein Gespräch über die Einbildungskraft zwischen einem Menschen und einem Gliedermann.
    Mit freundlichem Gruße
    uralt

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