Steinzeitmenschen nicht dauertanzend

Da war ich gestern Mittag doch überrascht, dass, obwohl die Medien erst vor wenigen Wochen  darüber berichtet hatten, die Arte-Doku „Fußspuren in die Vergangenheit“ so schnell ausgestrahlt wurde. Mein Steinzeitlerherz schlug gleich höher, denn die Doku berichtet von der Begegnung zwischen modernen, westlichen Wissenschaftlern und Fährtenlesern aus dem Stamm der San, welche den Archäologen helfen sollten, prähistorische Fußspuren zu lesen und zu deuten.

Was soll ich schreiben, alles Wesentliche zur Doku kann man schon bei Nils Müller nachlesen. Kurz gefasst: Die namibischen Fährtensucher konnten in allen gezeigten Fällen logisch und begründet darstellen, wie die Fußspuren ihrer Meinung nach (nicht) entstanden sind. So wurden aus den geheimnisumwitterten Fersenabdrücken einer der Volp-Höhlen banale Transportwege von einer Lehmgrube zu einem noch erhaltenen Steinzeit-Kunstwerk. Die wissenschaftliche Forschung hatte da bislang einen rituellen Tanz vermutet.

Nebenbei war es spannend, zu beobachten, wie sehr das Fährtenlesen unserem literarischen Lesen ähnelt: Die Fährtensucher mussten die sich ihnen darbietenden Zeichen entschlüsseln, sie in einen Zusammenhang bringen und konnten dann eine Geschichte rekonstruieren. Aus der Vielzahl an tanzenden Höhlenmenschen (man beachte all die Vorurteile, die darin mitschwingen) wurden so sehr nüchtern Vater und Sohn, die gemeinsam an einem Kunstwerk arbeiteten.

Und das war das Schöne an den nüchternen Betrachtungen der Afrikaner: Sie erklärten die Spuren ganz pragmatisch und ohne religiösen Hokuspokus, der sich in der Dokumentation als eine zu oft gewählte peinliche Verlegenheitslösung der modernen Archäologie entpuppte, die immer dann herhalten muss, wenn eine handfeste Erklärung nicht greifbar scheint.

Doch das kennzeichnet Wissenschaft eben auch, wir müssen uns das nur permanent vor Augen halten. Ein schönes Beispiel bietet hier der Neandertaler. Vor nur gut hundert Jahren stellte man sich den Neandertaler noch so vor, mittlerweile hat sich das Bild gewandelt, und es gibt beeindruckende moderne Rekonstruktionen – die ihrerseits aber wieder beeinflusst sein mögen, von unserer heutigen Sicht auf die Welt. Gut möglich, dass sich unser Bild vom dauertanzenden, super-spirituellen Höhlenmenschen auch langsam wandelt. Nur gut, dass uns Naturvölker dabei noch helfen können.

5 Gedanken zu „Steinzeitmenschen nicht dauertanzend

  1. Es gibt einen Aufsatz „Neurobiologie und Kulturgeschichte des Lesens und Schreibens“ von Otto-Joachim Grüsser (1995), den ich bisher allerdings nur aus zweiter Hand kenne. Müsste mal in die Bibliothek. Darin stellt er die Hypothese auf, dass Lesen und Spurenlesen die gleichen Hirnregionen benutzen, die für die Gruppenjagd nützlich waren. Wie sehr er das belegt, weiß ich aber nicht.

  2. Das ist ja ein toller Hinweis. Auf books.google.com findet sich auch gleich etwas:

    Um zu verstehen, daß für die […] Leistung des Schreibens und Lesens Hirnregionen benutzt werden, die in der Phylogenese sich für andere Aufgaben entwickelt haben, ist es erforderlich, eine allgemeine Grundfunktion von Schreiben und Lesen zu finden. Es ist die visuelle pars-pro-toto- Funktion: Ein Teil steht für ein ganzes Objekt oder einen komplexen Sachverhalt. Visuelle pars-pro-toto-Funktionen sind zum Beispiel das Spurenlesen bei der Jagd, jedoch auch das Erkennen eines Gegenstandes, wenn man nur einen kleinen Teil desselben sieht und zum Beispiel von einem sichtbaren Finger auf eine Hand, von einer sichtbaren Hand auf einen Körper […] schließt.
    […] Lesen und Schreiben sind besondere kulturelle Adaptionen der visuellen pars-pro-toto-Funktion.

    (zit. nach dieser Quelle)

    • Ich habe mal einen Zeitungsartikel dazu gefunden und immer dann verwendet, wenn ich Ecos Name er Rose gelesen habe – da geht es ja auch ums Spurenlesen und Lesen. (Früher natürlich. Im G8 bleibt keine Zeit mehr für so etwas.)

    • Habe ich schon mal in deinem Lehrerzimmer gesehen. Das ist natürlich ein ganz schöner Schinken für die Sek-I. Weiß nicht, ob ich so mutig wäre, ein vom Umfang her solches Kaliber in der oberen Mittelstufe zu lesen. Im G8 kämpfen wir in der Neun gerade darum, ob Schwerpunkt eher auf Drama oder Epik. Beides geht nicht mehr.

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