Eine killermäßige Beobachtung

Trotz klassenarbeitstypischen Zeitdrucks bringen Schüler in Sekundenschnelle Dinge aufs Papier, die ihnen plötzlich nicht mehr behagen. Sie greifen dann zum Tintenkiller und killern in zweiminütiger Fleißarbeit den letzten Rest verräterischer Tinte vom Blatt, um darauf mit dem Anti-Tintenkiller wiederum etwas halb Verwischtes darüberzuschbreiben. Ich raufe mir jedes Mal innerlich die Haare! Was für ein Zeitverlust! Meine Oberstüfler weise ich immer darauf hin, dass sie durchstreichen sollen, statt zu killern. Trotzdem höre ich in einer Klausur mindestens alle fünf Minuten einmal das verräterische Killerkratzen. Warum nur? Was reitet diese Zeitverschwender?

Den Franken näher

Ausgerechnet in der Klasse, in der es in Sachen Disziplin am schwierigsten ist, habe ich einen Geschichts-Fan gefunden. Die Bio-Lehrerin steckte mir, dass eine Schülerin nach der Bio-Stunde meinte, Geschichte sei ihr Lieblingsfach. Strike! Sehr erfreulich, aber vor allem erstaunlich, weil diese Schülerin noch nicht allzu lange in Europa weilt und mich so das Interesse an europäischer Geschichte ein wenig wunderte. Doch im Gegenteil, trotz des sie persönlich nicht betreffenden Themas „Das Christentum als Säule des Mittelalters“ ist sie hochinteressiert. Denn das Nichtbetroffensein ist nur scheinbar nicht vorhanden.

„Da treffen zwei Kulturen aufeinander!“, sagte sie heute in einer Stunde, die sich mit der Missionierung des Frankenreiches beschäftigte, und ich stutzte für eine Sekunde, denn wir hatten bisher eigentlich nicht von „Kulturen“, sondern von „Heiden“ und „Christen“ gesprochen, brav, so wie es auch im Buch steht. Doch natürlich hatte sie recht und genau da lag (und liegt) auch ihr Lebensweltbezug zum Thema „Christianisierung“: Fremde Kulturen prallen aufeinander. Ein Erlebnis, das jemand, der von einem anderen Kontinent, mit anderer Religion und anderen Wertesystemen nach Deutschland gekommen ist, offensichtlich sehr gut nachvollziehen kann. Sie ist den alten Franken vermutlich näher als wir eingeborene Europäer.

Kompetenzverlust: Schüler verlernen das Abschreiben

Die Jugend von heute –  nicht mal ordentlich abschreiben kann sie mehr! Oder was soll man davon halten, wenn Schüler Artikel aus der englischen Wikipedia übernehmen, diese durch den Google-Translator jagen und dann erwarten, dass ein ordentlicher Text dabei herauskommt? Der so entstandene Murks wurde einer Kollegin vorgelegt. Wenigsten einen Blick drüberwerfen sollte man schon noch, nachdem man den Print-Knopf gedrückt hat. Manche halten einen, sprich: mich, auch für geistig banane. Da tauchen in einem von einem Schüler verfassten Bericht Wörter wie „Proteasominhibitoren“ auf, und ich soll glauben, das wäre eigenerdacht… eine bessere Steilvorlage für Google konnte ich mir nicht wünschen. War dann auch gleich ein Volltreffer.

Ich plädiere für ein neues Fach: Abschreiben lernen.

Ein bescheidenes Poesiealbum

Da liegt es nun hier mitten auf meinem Schreibtisch vor der Tastatur und wartet darauf, dass ich etwas hineinschreibe. Es ist ganz klein, DinA-6, und sein Umschlag aus Pappe ist in den Regenbogenfarben gehalten. Es besteht einfach aus weißen, linierten Seiten, und verzichtet auf besonderen Poesiealbentand wie Schnörkelverzierungen oder gar Vorgaben, was man an welche Stelle hinschreiben darf. Es liegt hier nicht zufällig, eine junge Dame aus meiner Fünften hat es mir nach der Stunde mitgegeben und wartet nun gespannt darauf, dass eine weitere Seite gefüllt wird. Von mir. Und das macht mich ein kleines bisschen stolz, obwohl Poesiealben doch eigentlich schon fast zum Schulalltag gehören. Was ist so besonders an diesem bescheidenen Poesiealbum?

Blättert man die erste Seite um, so sieht man, dass ein jemand seinen Namen hineingeschrieben hat, der offensichtlich gerade erst schreiben gelernt hat. Und damit meine ich nicht: In der Schule schreiben gelernt hat, denn der zweite Eintrag datiert auf einen späten Monat im Jahr 2001. Dieses Poesiealbum ist also das einer Poesiealbumfrühstarterin. Viele Leute haben da hineingeschrieben über all die Jahre, doch noch lange nicht jeder: Nur engste Familienangehörige, beste Freundinnen und Freunde und auch Lehrer. Von denen aber nur ganz wenige: Der Grundschullehrer (mit traumhafter Schrift!), die Klavierlehrerin und der jetzige Klassenlehrer. Und nun ich, obwohl ich doch gerade erst als Lehrer eingestiegen bin. Und dass ich das jetzt schon darf, das macht mich ein kleines bisschen stolz.

So. Jetzt muss ich mir die Vorschusslorbeeren nur noch realiter erarbeiten und vor allem etwas Besonderes hineinschreiben. In das bescheidene Poesiealbum.

Eindrücke

Das Lehrerleben treibt wilde Blüten. Heute haben sich neue Referendare an meiner Schule vorgestellt – mit dem einen habe ich vom ersten Semester an beide Fächer gemeinsam studiert, nun kann ich sein Ausbildungslehrer sein. Schon ein wenig sonderbar, denn so weit fühle ich mich ehrlich gesagt noch lange nicht. Ich bin immer jemand, der gerne „auf Nummer Sicher“ geht, der viel ausprobiert, Erfahrungen sammelt, sich rote Nasen und Bestätigung holt, bevor er sich solcherlei zutraut. In diesem Fall hieße das: Mindestens alle Unterrichtsinhalte, die ich mit einem Referendaren gemeinsam machen würde, selber wenigstens einmal unterrichtet zu haben. Naja, Training on the job nennt man das in der freien Wirtschaft, wieso nicht auch in der Schule? Ich werde Stunden mit Referendarsbegleitung jedenfalls extra gründlich vorbereiten, das steht fest.

Ansonsten tut es gut, querbeet eigenständig in nahezu allen Klassenstufen zu unterrichten. Ich lerne die Schüler besser kennen, weil die jetzt ihrerseits auch wissen, dass ich nicht nur auf Durchgangsstation bin, und kann gleichzeitig testen, ob ich überall in der Lage ist, die Klassen zu „führen“. Mein Eindruck nach einer Woche ist positiv, vor allem bei den Klassen, in denen ich fünf Stunden pro Woche bin. Da kenne ich auch schon fast alle Namen, in den zweistündigen Kursen wird es wohl noch ein wenig dauern…

Erste Pausenaufsichten gehabt. Easy going. Von hinten nach vorne den Flur aufrollen, alle Klassen überprüfen, abschließen, Quälgeister auf den Hof verbannen. That’s it. Ob der Schüler von der angeblichen Energiespar-AG mich veralbern wollte, war mir erst nicht klar, aber im Zweifel für den Angeklagten. Es stellte sich heraus, dass es tatsächlich eine Energiespar-AG gibt. Immerhin.

Am nächsten Donnerstag werde ich um diese Zeit nicht bloggen, sondern in der Schule sein und einen Förderkurs bestreiten. Wir werden das ganz gemütlich bei Keksen machen, denn es wird nur eine Hand voll (arrr… man schreibt es wirklich so!) Schüler kommen, was mir gut gefällt, denn nur dann kann Förderung wirklich effektiv sein.

Reif

Wenn erwachsene Schüler Taschentücher in den Kippeneimer werfen… muss man dann an deren geistiger Reife zweifeln oder liegt das nur an persönlichen Defiziten in Chemie? Auf jeden Fall hatte ich am Ende die schwarzen Hände!

Leselust?

„Wer liest denn hier historische Romane?“, fragt die Lehrerin den GK Deutsch. Hände habe ich keine gesehen, nur ein verschämtes „Jaaaa… doooch…“ aus der hinteren linken Ecke gehört. Öhm!? Nicht mal Ken Follett? 😯

Aber: Würde ich heute viele Romane lesen, wenn ich mit dem Internet aufgewachsen wäre? Hmm…

Harte Kerle

Abseits stehend, auf einem Klassenausflug, durfte ich folgenden Dialog einiger heranwachsender Herren genießen:

„Ha! Und Dingsbums hat nur einen Kaffee getrunken!“

„Und du?“

„Ich habe Espresso genommen! Espresso ist viermal so hart wie Kaffee!“

"1871 war Reichsgründung"

Da war ich erst mal baff. Das saß wie eine Ohrfeige. In einem Aufwasch hatte der junge Mann mir meine Vorurteil vor Augen gehalten und von der Backe geputzt. „1871 war Reichsgründung“, hatte er gesagt, „Und 1914 war der Erste Weltkrieg, da haben die Franzosen Elsass-Lothringen zurückgewonnen.“

„Soso…“, hatte ich gestaunt. Verblüfft, war es doch der gleiche junge Mann, der mich vor wenigen Minuten im Bus noch dazu animieren wollte, ihm die Beat-Box zu machen, während er den „Senne-Rap“ zum Besten geben wollte, bevor ihn eine junge blonde Frau davon abbringen konnte.

„Das ist meine Lehrerin“, meinte er, als sie außer Hörweite war, „Ist ’ne hübsche Lehrerin. Von zehn Punkten gebe ich 8.5. Figur 8 Punkte, Brust 2 Punkte. Soll ich sie mit Ihnen…“ Er zwinkerte mir eindeutig zweideutig zu. Mein Ringfinger rettet mich. Wie sie denn im Unterricht so sei? „Och…“, klang es da, der Slang der dritten Generation unverhörbar, „… so ungefähr ’ne Drei. Ich hab‘ auch nur ’ne Drei minus, hätte sie mir eine Eins gegeben, hätte sie auch ’ne Eins… HEY!“

Ein „Grundschulkumpel“ hat den Bus betreten, die beiden unterhalten sich über irgendwen, der irgendwem mal „übelst“ eins auf die Mappe gegeben hat. Um mich herum sitzen im hintersten Teil des Busses lauter Hauptschüler, alle auf dem Weg nach Hause. Einige, darunter mein junger Beat-Box-Freund, sehen aus als kämen sie vom Sport, da sie Trainingskluft tragen, doch während ich ihre Outfits vergleiche, merke ich, dass das ihre Alltagskleidung ist.

Der Beat-Box-Junge trägt eine Jogginghose, darüber eine Trainingsjacke und ganz obenauf eine Schirmmütze, mit der er immer wieder aufs Neue seine kurzen schwarzen Haare verwuschelt. Die Jogginghose ist an einer Stelle genäht, unwillkürlich schießen mir die Nachkriegsgeschichten aus den Büchern meiner Großeltern durch den Kopf, in denen immer wieder die arme, aber gute, Mutter ihrem Jungen Flicken auf die Hose näht, für die er dann verspottet wird.

Mein Gegenüber wird nicht verspottet, er scheint eher der Anführer zu sein. Die beisitzenden Mädchen kichern, wenn es sein muss, sie staunen, wenn es sein muss, sie bewundern, wenn es sein muss. Die Jungs machen einen auf dicke Hose und der Grundschulkumpel präsentiert sein nacktes Handy-Hintergrundbild, bevor sie daran gehen, sich über die Fettleibigkeit und Oberweite gemeinsamer weiblicher Bekannter herzumachen.

„Sind Sie auch Lehrer?“, fragt er, nachdem der Kumpel ihn an einer Haltestelle verlassen hat. Meine Tasche entlarvt mich. Nach Nennung der Schule kurze Spekulationen, welche Grundschule das sein könnte, bis jemand ihn mit, wie ich finde, leicht gerümpfter Nase aufs Gymnasium bringt.

Sein Blick verschließt sich nicht. Dass ich jetzt rausmüsse, teile ich mit, was zu großen Augen um mich herum führt. „Sie wohnen hier?“ Ja, ich steige tatsächlich aus, nebst einiger der Schüler, die sich von ihrer Lehrerin verabschieden, und schwinge mir die Tasche um die Schulter. „Welche Fächer unterrichten Sie?“

„1871 war Reichsgründung“, erklärt mir der junge Türke, nachdem er herausgefunden hat, dass ich Geschichte und Deutsch unterrichte. Ein türkischer Hauptschüler, der das Datum der Gründung des deutschen Kaiserreiches kennt und mich in groben Zügen über den Werdegang Elsass-Lothringens aufklärt. Geschichte mache ihm Spaß, seine Lehrerin sei gut, weil sie streng aber fair sei – und sie könne gut erzählen. Seine Schulkollegin bestätigt das, Unterricht bei dieser Lehrerin mache viel Spaß, und sie brauche nie jemanden rausschicken oder ins Klassenbuch eintragen. Sie wolle, dass alle den 10B-Abschluss erreichen.

Unsere Wege trennen sich an meiner Wohnungstür. Wortfetzen aus kürzlich abgehaltenen Zeugniskonferenzen schwirren durch meinen Kopf, und ich frage mich, warum wir ohne Not Potential einfach verschenken.

Geplatzter Knoten

Peter (Name geändert) ist eher ein zurückhaltender Schüler. Einer, der nicht viel sagt. Einer, der sich nur vorsichtig in das Unterrichtsgeschehen einbringt. Einer, der eher vorliest, als den Unterricht durch Beiträge voranzutreiben.

Bis ich versuche, Figurenträume psychoanalytisch zu betrachten. Schon bei der Einführung der Theorie der Psychoanalyse fällt Peter durch eine ungewohnt häufige Beteiligung auf, hat die Theorie sofort verstanden, erklärt sie bereitwillig seinen Mitschülern, schwimmt wie ein Fisch im Wasser.

Die Stunde darauf, die Interpretation der Träume ist gefragt, präsentiert Peter mit seiner Gruppe ein hervorragendes Ergebnis, widerlegt im Alleingang mit sicherer Leichtigkeit die kritischen Einwände der durchaus selbstbewussten Restgruppe und stellt dabei mein Bild seiner selbst völlig auf den Kopf.

Welcher Knoten ist denn da geplatzt? Hoffentlich bleibt das so!? Hoffentlich kann ich sein Interesse halten…