Acta, der zweite Teil

Heute sollte es dann so weit sein, heute wollten zwei Schüler einer siebten Klasse, wie schon beschrieben, den anderen ACTA präsentieren und ehrlich gesagt war ich mehr schlecht als recht vorbereitet. Zumindest gefühlt hatte ich noch nicht genug gelesen und die Abiturvorbereitung nebst Organisation eines Förderkurses raubte dann doch die Zeit, die ich für eine gründliche Recherche benötig hätte. So harrte ich gespannt der Dinge, die da kommen sollten – im Zweifel hätten wir alles Unklare gesammelt und zur weiteren Bearbeitung vertagt. Es kam letzlich aber doch sowieso ganz anders.

Das Monster ACTA
Einer der beiden Referenten war nämlich erkrankt und so mussten wir den Vortrag verschieben. Während ich mit dem verbliebenen Referenten das weitere Vorgehen abklärte, ging aber ein Raunen durch die Klasse: Was ist eigentlich dieses ACTA? Wir müssen unbedingt über ACTA reden! ACTA muss gestoppt werden. Der Gesprächsbedarf lag so deutlich in der Luft, dass ich mich entschloss, erst einmal die Stimmung einzufangen, das Vorwissen abzuklopfen sowie Sorgen und Ängste aufzunehmen.

Auf meine Nachfrage schossen gleich um die zwölf Finger in die Luft: Die meisten Schüler hatten sich über die Anonymous-Video per Youtube informiert und zu Beginn gab ausgerechnet mein stillstes(!) Mädchen ein anderthalbminütiges, emotionales Statement ab, warum ACTA gefährlich sei. Sie wiederholt das aus dem Anonymous-Video bekannte Bild des Rezepts, das man zuhause nur noch unter Gefahr einer Strafe der Mutter weitersagen dürfe. Beliebte Webdienste wie Google, Facebook oder Youtube müssten abgeschaltet werden, sollte ACTA in Kraft treten. Sogar die Sprache würde sich durch ACTA verändern.

Eine der häufigsten Formulierungen in der folgenden Runde war „das wird dann an ACTA geschickt“. ACTA existiert in den Köpfen dieser Siebtklässler als Akteur, als Instanz, fast als Monster. Die Sorge vor der Überwachung des gesamten Lebens wurde formuliert; Angst davor, dass eine per Reply-Knopf kopierte Mail zur Strafe führen könnte, auch die Sorge vor Gefängnisstrafe wurde artikuliert.

Der verbliebene Referent trat dann erstaunlicherweise als besonnene Stimme im Anti-ACTA-Orkan auf: Es handele sich um ein Abkommen verschiedener Länder, und er wies sehr reflektiert darauf hin, dass Anonymous ‚Hacker‘ seien, denen etwas wie ACTA besonders ungelegen komme, weshalb man nicht einfach deren Sichtweise folgen dürfe. Er verwies aber auch auf das „three-strikes“-Modell mit der Konsequenz einer Netzsperre.

Zuletzt entwickelten sich die Äußerungen dahin, dass jede Kultur erstickt werden müsse, wenn das Kopieren völlig verboten werden würde. Wie sollte man noch Songs covern? Was wäre mit eigenen Videos, bei denen das Radio im Hintergrund liefe? Unschlüssig war man sich bei der Frage, ob ACTA „den Händlern“ eher nütze oder schade, da es doch für den Internethandel eigentlich das Ende bedeuten müsse.

Fazit
Es war das Ende einer neunten Stunde in einer siebten Klasse, und es war die ganze Zeit mucksmäuschenstill, die Beteiligung engagiert und hoch. In den Äußerungen der Schüler kommt vieles zusammen, das aufgearbeitet werden muss. Manchen Schülern scheint nicht klar zu sein, wann eine Kopie unter Umständen wenig erfreulich für den Urheber sein kann und auf viele wirkt ACTA wie ein abstraktes Wesen (vielleicht kommt mir das aber auch nur so vor, weil Dreizehnjährige sich noch nicht auf gewohnte Weise politisch ausdrücken können). Die Verbindung mit politischen oder wirtschaftlichen Gruppen haben die Schüler nicht vorgenommen, für sie gibt es nur dieses böse ACTA. Das Verlagswesen ist ihnen logischerweise unbekannt, Vertriebswege, Verwertungsketten unklar. Die Rolle der Provider wurde nicht erwähnt. Es wird Zeit, dass wir dem unscharfen Monstrum bald mal ein Gesicht verleihen. Fürs zweite Halbjahr dürfte sich dann logischerweise eine intensive „Medienerziehung“ (‚Erziehung‘ klingt hier furchtbar, oder?) anschließen.

Falls jemand von euch noch eine Ergänzung oder Anregung für mich hat, bin ich ihm mehr als dankbar!

Medienbildung ist politische Bildung

Als ich letze Woche den Klassenraum meiner siebten Klasse betrat, hatte jemand die Tafel vollgeschmiert. Das ist, außer manchmal nach der langen Mittagspause, eigentlich nicht üblich, und ich werfe immer einen schnellen Blick darauf, um herauszufinden, ob das Angeschriebene thematisiert werden muss oder nicht. In der Regel finden nur harmlose Dinge kurz vor Stundenbeginn ihren Weg an die Tafel, aber diesmal nicht. „Stoppt Acta!“ hatte jemand wiederholt an die Tafel geschrieben.

Und da stand ich nun vor dem grünen Monstrum, weiß hatten dreizehnjährige Siebtklässler „Stoppt Acta“ aufs Grün gebracht. „Ach, ACTA!“, sagte ich mit wissendem Unterton, dabei aber nur mit Halbwissen und Meinungsäußerungen auf Twitter gespeist. C. wittert seine Chance:„Können wir eigentlich auch einfach mal so Referate über irgendein Thema halten?“ „Klar.“ „Haben Sie auch ’nen Beamer, auf dem man Videos zeigen kann?“ „Klar.“

Und folgerichtig sitze ich jetzt hier und beschäftige mich extrinsisch motiviert mit ACTA. Immerhin muss ich in der Lage sein, sachliche Fehler richtigzustellen, Sachverhalte zu erklären und dabei, gemäß dem Beutelsbacher Konsens, die Positionen ausgewogen darzustellen. Gar nicht einfach, in diesem Gewimmel von Meinungen, Unmutsäußerungen, Grabenkämpfen. Einen kleinen Einblick in das Dilemma zeigt das Schulmusikerblog, in dem Sebastian Dorok das Thema von beiden Seiten beleuchtet.

Gleichzeitig zeigt diese im Unterrichtsalltag eher nebensächlich erscheinende Episode, dass bei den jungen Menschen politisches Bewusstsein im Internet gebildet wird. Mit kurzen Videos kann man sie gut erreichen, plakative Botschaften abfeuern, Stimmung machen, Vordenken und Shitstorms schüren. Wir müssen Medieneziehung als genuin politische Bildung verstehen, wenn wir nicht wollen, dass unsere Kinder im Netz von plakativen, hippen oder auch rückwärtsgewandten Positionen überrumpelt werden. Es geht bei Medienbildung nicht um die bunteste Prezi und den kürzesten Twitterbeitrag, es geht schlichtweg darum, sich seiner Vernunft bedienen zu können. Auch wenn das bei so komplizierten Themen wie ACTA nicht immer einfach ist.

Streiken nicht strafbar

Zumindest dürfen verbeamtete Lehrer nicht mit Sanktionen belegt werden, wenn sie streiken, sofern ich das richtig verstehe:

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entschied, dass verbeamtete Lehrer trotz des geltenden Streikverbots für Beamte ohne disziplinarische Konsequenzen ihre Arbeit niederlegen dürfen. (Spiegel)

Die klagende Lehrerin musste die 1500 Euro Geldbuße nicht zahlen.

Ach… der Ritterbach-Verlag…

Der Ritterbach-Verlag. Dort hat man gefälligst in NRW seine Lehrpläne zu beziehen. Gegen einen kleinen Obulus von um die 10 Euro bekommt dort jeder Lehrer seine Arbeitsgrundlage. Okay, man darf die Pläne auf der Ritterbach-Seite auch kostenlos herunterladen, wenn… ja, wenn… der Ritterbach-Server sich zur Mitarbeit überreden ließe:

Der Ritterbach-Verlag – ein ärgerliches Trauerspiel.

Danke Frau Behler,

dass Sie mir, trotz hinreichender finanzieller Zukunftssicherheit, einen potentiellen Arbeitsplatz wegnehmen wollen:

SPIEGEL: Frau Behler, Sie wollen einem Bielefelder Gymnasium, an dem Lehrermangel herrscht, helfen und dort unentgeltlich Deutsch unterrichten. Warum dürfen Sie das nicht?

Behler: Weil ich auf keinen Fall für meine Arbeit bezahlt werden möcht. Mit der Schulleiterin, die mich gefragt hatte, ob ich einspringen kann, war schon alles klar.

(Quelle: Spiegel Online)

Es gibt und gab ja auch überhaupt keine Deutsch-Referendare in Bielefeld, nur zwei ganze Fachseminare aktuell. Ich will am liebsten gar nicht wissen, welche Schulleiterin das war, die kostenlos Ex-Ministerinnen beschäftigen möchte. Anstatt Mängel bei der finanziellen Situation von Schulen (und nichts anderes kann ein Lehrermangel in Deutsch bedeuten) bei Frau Behlers Kollegin Sommer anzuprangern, bindet man lieber das politische System gleich mit ein. Ist ja dann auch dolle PR für die Schule! Und für Frau Behler, der barmherzigen Samariterin, der Sankt Martina von Bielefeld.

Aber es wird noch besser:

SPIEGEL: Haben Sie Hinweise, dass die NRW-Schulministerin Barbara Sommer, CDU, nun an einer Art Lex Behler arbeitet?

Behler (lacht): Ich habe den Eindruck, dass das Schulministerium sich jetzt bemüht, das Problem kreativ zu lösen. Eine Spezialregelung nur für mich wäre aber zu wenig. Ich bin sicher nicht die einzige Fachkraft, die ein paar Stunden pro Woche ehrenamtlich arbeiten würde. Diese Leute müssen ermutigt und nicht ausgebremst werden.

Na bestens! „Kreativ lösen“ klingt wirklich gut. Ehrenamtliche Deutsch- und Geschichtslehrer (man beachte die Fächerkombination Behlers). Große Klasse, wofür mache ich den ganzen Murks hier eigentlich mit? Damit ein paar Rentner mir dann den Arbeitsplatz wegnehmen? Warum schreibe ich hier eigentlich haufenweise didaktisch-methodische Kommentare, begründe jeden Furz mit fachwissenschaftlichen Artikeln und verfasse eine zweite Staatsexamensarbeit? Wieso muss ich das Studienseminar besuchen, reihenweise Unterrichtsbesuche über mich ergehen lassen und mich Prüfungsverfahren stellen, denen man auf zehn Kilometer ansehen kann, dass sie nicht pädagogische, sondern rein juristische Gewächse sind? Damit ausrangierte Fachkräfte mich für null Euro in Nicht-Mangelfächern ersetzen können?

Ich frage mich, Frau Behler, wer oder was hier ausgebremst werden soll. Mein Tipp: Verlagert doch einfach alle Schulen nach Rumänien, dann wird’s bestimmt noch billiger.

Eine langweilige Folie

Eines muss man Roland Koch ja lassen: Er bedient zum perfekten Zeitpunkt meine Unterrichtsreihe zum Thema „Jugendkriminalität“. Kaum will ich mit meinen Schülern Sinn und Unsinn härterer Strafen erörtern, tritt der hessische Ministerpräsident eine Debatte los, die, breit von den Medien aufgegriffen, auch bei meinen jugendlichen Schülern angekommen ist.

Für einen Stundeneinstieg bot sich also eine Folie mit Koch- und ähnlichen Forderungen an. Verschärfung der Jugendstrafe, Sicherungsverwahrung schon ab 18, Ausweisung und Bootcamps – alles Vorschläge, mit denen man eine prima Diskussion anzetteln könnte. Also flugs (und Google News sei dank) entsprechende Aussagen zusammengesucht und zugegebenermaßen recht lieblos auf eine Folie gedruckt.

Da die Folie als Einstieg gedacht war, sollte sie (eigentlich) auch optisch etwas hermachen, schließlich buhlt man als Lehrer um die Aufmerksamkeit von 33 Köpfen gleichzeitig. Deshalb wollte ich die gemachten Aussagen optisch unterstützen, vielleicht durch zackige Umrandungen, Signalfarben oder ähnliche dem Boulevardjournalismus nicht ganz unbekannte Verfahrensweisen. Die Schüler würden, das war mir völlig klar, sich sowieso kollektiv gegen die lächerlichen, durchschaubaren Koch-Forderungen stemmen. Leider war die Tageszeit schon zu weit vorgerückt, sodass ich lediglich die Schriftarten abwechslungsreich gestaltete und auf weitergehende Designanpassungen verzichtete.

Und vielleicht war das auch gut so. Denn die überwältigende Mehrheit der Schüler äußerte sich unerwartet positiv gegenüber den Koch-Vorschlägen. „Recht so!“ oder „Die haben wohl auch ’nen Kopf zum Denken!“ und „Da helfen nur härtere Strafen!“ waren Sätze, die durch die Klasse flogen. Und ich stand verblüfft abseits an der Tür und wunderte mich. Das hätte ich nicht erwartet. Und vielleicht nie erfahren, wenn meine Folie schon durch ihr reißerisches Design eine bestimmte Einstellung offenbart und unter Umständen damit schon das Konfliktpotenzial des Themas zerstört hätte.

So kann ich nun beruhigt meine Schüler in Gruppen zu verschiedenen aktuell möglichen Jugenstrafmaßnahmen arbeiten lassen, wohlwissend, dass nicht alle auf Hokey gebürstet sind. Und am Ende lege ich meine langweilige Folie noch einmal auf. Mal schauen, was dann dabei rauskommt.