WhatsApp und Schule

Dieser Beitrag wurde inspiriert durch eine Twitter-Debatte, bei der mir einmal mehr deutlich wurde, dass man auf Twitter nicht debattieren kann. Ich habe ich mich darum aus der Debatte zurückgezogen und beschlossen, meine Gedanken hier zu verbloggen.

Es begann alles mit folgendem Tweet:

Ich antwortete negativ, da ich die konkrete Unterrichtssituation eine Einstieges vor Augen hatte, bei dem etwas per Schere ausgeschnitten werden sollte. Das wäre mit einer WhatsApp-Nachricht schlicht nicht möglich gewesen. Dieser Mangel an Information war jedoch kein Grund, nicht polemisch über mein uncooles Nichts-WhatsApp-Einsetzen herzuziehen. Der Verweis darauf, dass überdies nicht alle Kinder der besagten Klasse ein Handy besitzen, wurde mit Verweisen auf Statistiken abgeschmettert („Alle Kinder haben ein Handy!“). Zu guter Letzt ist an meiner Schule die schulische Nutzung sozialer Netzwerke ausdrücklich (und ich meine damit ausdrücklich) untersagt, aber, so im Twitter-Stream: „Wer nicht will, findet Gründe“.

WhatsApp nicht zu nutzen sei ignorant, der Ausgangstweet Gejammer obendrein, jedes Kind habe ein Handy, schließlich müssten die Kinder den Umgang damit auch lernen, und das Mobbing verlagere sich sowieso anderswo hin.

Irgendwann hatte ich dann die Schnauze voll und habe beschlossen, das Thema lieber zu bebloggen, denn eine ernsthafte Auseinandersetzung war leider nicht möglich. Nun denn, hier kommt meine Perspektive.

Meine persönliche Haltung zu WhatsApp

Ich bin kein Freund von WhatsApp und nutze es nur, wenn mein Kontakt keine adäquate Alternative nutzt. Ich habe dem Facebook-Kosmos den Rücken gekehrt (Facebook- und Instagram-Account gelöscht) und würde lieber heute als morgen WhatsApp den Rücken kehren, weil ich mich nicht freiwillig der Datensammelwut von Facebook hingeben möchte. Es gibt allerdings leider Menschen, zu denen ich nur per WhatsApp Kontakt halten kann. Kinder dazu zu bringen, eine Software zu nutzen, die ich selbst nicht nutzen möchte, halte ich für widersprüchlich.

Ein weiterer Aspekt ist die permanente Erreichbarkeit. Ich versuche, sehr bewusst mit meiner Zeit umzugehen und habe konkrete Zeiten, in denen ich nicht erreichbar bin. Für ca. 120 bis 180 Schüler permanent per WhatsApp erreichbar sein zu können, halte ich nicht für erstrebenswert. Gleiches gilt für die Schüler: Die schlechte Unterrichtsvorbereitung des Lehrers per WhatsApp ausbaden zu müssen, weil der noch schnell seine Hausaufgaben hinterherschickt, kann auch nicht Sinn der Sache sein.

Man muss den Kindern doch den Umgang beibringen!

Meiner Erfahrung nach lernen Kinder den handelsüblichen Umgang mit WhatsApp ziemlich schnell: Texte zu schreiben, Videos zu schicken, Akronyme und Emojis zu verwenden, Bilder einzufügen, Gruppen anzulegen – ein Leichtes für herkömmliche 10-11-Jährige. Da ist keine besondere Herausforderung zu erkennen.

Weniger lehrreich ist es hingegen, wenn ach so medienreflektierte Lehrer die ihnen anvertrauten Kinder zu einem unreflektierten Umgang mit globalen Datenkraken wie Facebook nötigen. Wo, wenn nicht bei Schulkindern, könnte Facebook sein erstes großes Ziel, eine umfassende Abbildung der Soziostruktur seiner Nutzer zusammenzusammeln, am leichtesten erreichen? Die Kinder nutzen WhatsApp arglos – umso mehr, wenn auch der coole Lieblingslehrer / Schuldirektor das wie selbstverständlich im Unterricht benutzt. Reflektierter Umgang? Fehlanzeige! Wenn der Lehrer zum Gebrauch von WhatsApp einlädt, dann hilft am Ende auch keine wohlgemeinte superkritische Klassenleiterstunde mehr. Zumal das Kernproblem der WhatsApp-Nutzung bei jungen Menschen im Unterstufenalter ganz woanders liegt.

Mobbing

In der Altersgruppe der Zwölf- bis 19-Jährigen gibt jeder Dritte (34 %) an, dass in seinem Bekanntenkreis schon einmal jemand im Internet oder per Handy fertig gemacht wurde. […]

Setzt man die Schwelle der Beeinträchtigung etwas niedriger und unterstellt nicht explizit die Absicht, jemanden gezielt fertig zu machen, sondern fragt nach, ob über die befragte Person schon einmal beleidigende, falsche oder peinliche Sachen im Internet oder per Handy verbreitet wurden, so sieht sich jeder Fünfte als Betroffener. (JIM Studie 2016)

Und das ist der Kontext, in dem mir WhatsApp im Schulkontext überwiegend begegnet: Als Mobbing-Medium (und Nerv-Medium). Spricht man mit den SuS, so bemängeln diese, dass in Klassengruppen viel unnützes Zeug gepostet werde (300x „Hi“, ellenlange sinnlose Zeichenkombinationen, zeitfressende Sprachnachrichten, „lustige“ Bilder, etc.) und man phasenweise sein Handy stummschalten müsse, weil es unaufhörlich bimmelt. Fragt in euren Klassen doch einfach mal nach.

Noch ärger ist jedoch das Mobbing. Dieses hat es schon immer gegeben und es ist auch immer schon ein typisch schulisches Problem; die mittlerweile auch nicht mehr allzu frische Erkenntnis ist aber, dass Mobbing mit WhatsApp eine neue Qualität hinzugewonnen hat, denn das Mobben findet nun zeitlich und örtlich uneingeschränkt statt. War früher nach Schulschluss zunächst einmal phasenweise Ruhe vor den Mobbern, so können diese bis in den freien Nachmittag, bis ins Wochenende und sogar über die Ferienzeit ihr mieses Spiel weitertreiben. Und das tun sie auch. Fleißig und emsig.

„Aufklärung!“, rufen in solchen Fällen die Apologeten. Die Kinder müssten ja den Umgang mit modernen Medien noch lernen – und verweisen (auch im Twitter-Dialog) gerne auf eine Sammlung hohler Arbeitsblätter, die aber im Fall der Fälle nichts bewirken. Und auch so manche Eltern kümmern sich einen feuchten Kehricht um die WhatsApp-Nutzung ihrer Kinder, wenn man sieht, was diese so an Frivolem und Gewaltverherrlichendem über ihr Smartphone versenden. Nicht zuletzt wir Medienfuzzis schließen gerne die Augen vor diesen Problemen, denn sie passen so gar nicht in unsere schöne neue Medienwelt. Den Umgang lernen sollen sie, doch sind die meisten meiner Meinung nach noch viel zu jung dafür, um distanziert und souverän mit komplexen Kommunikationssituationen, wie sie sich auf WhatsApp darstellen, umzugehen. Wie auch, das Leben an sich ist in diesem Alter doch schon kompliziert genug.

Umbruchssituationen

Kommen Kinder an die weiterführende Schule, sind sie meist zwischen 10 und 12 Jahren alt, verlassen ihre vertraute Grundschulumgebung und treffen auf eine völlig neue Klasse, in der sie viele neue Lehrer und Mitschüler kennenlernen. Das geht nicht nahtlos vonstatten, sondern ist immer begleitet von Brüchen und Schmerzen: Die liebgewonnene junge Klassenlehrerin wird ersetzt durch einen grummeligen Oberstudienrat, die meisten guten Freunde gehen auf eine andere Schule und plötzlich hat man nur noch zwei bis drei bekannte Bezugspunkte in der Klasse, zum Glück ist die beste Freundin auch dabei. Dann kommt die Phase der Annäherung und Neuordnung – und plötzlich ist die beste Freundin jemand anderes beste Freundin. Neue Cliquen bilden sich, und was hier in zwei, drei Sätzen abgehandelt wird, ist in Wirklichkeit ein monatelanger, teils jahrelanger, Prozess, der oft mit extremen Höhen und Tiefen, Freude, Hoffnung und Enttäuschung verbunden ist.

In diesen Situationen ist WhatsApp Gift fürs Klassenklima. Kinder, die mit den vielfachen Herausforderungen der schriftlichen Kommunikation heillos überfordert sind, treffen dann auf eine komplexe Klassensituation, die sie selbst gar nicht einordnen können. Als Kind will man einfach nur dazugehören. Das zeigt sich in WhatsApp-Gruppen, die von nutzlosen und in die hunderte gehenden „me too“-Beiträgen nur so wimmeln, und in denen der Enttäuschung über alte oder neue (Nicht-)Freunde lautstark oder auch subtil Luft gemacht wird, flankiert von weiteren Anheizer-WhatsApp-Gruppen, die sich zusätzlich noch strategisch drumherum gebildet haben. Und das kann übel enden – die Ratgeberliteratur ist mannigfaltig, ein Gespräch mit dem zuständigen Schulpsychologen erhellend.

Es ist natürlich schön, wenn die Kinder miteinander den richtigen Umgang mit Messenger-Apps wie WhatsApp lernen, aber reichlich zynisch aus der Perspektive eines betroffenen Kindes, das täglich die „Lernversuche“ der anderen ertragen und dabei selbst erlernen muss, dass es jederzeit und an jedem Ort das Opfer seiner Mobber sein muss.

Kein Messenger, nie?

Auch ich finde Messenger großartig, nutze sie oft und gerne. Am liebsten solche, die nicht mein Adressbuch filzen und ohne meine Handynummer auskommen. Am liebsten Ende-zu-Ende verschlüsselt. Am liebsten nicht in den Händen großer Datensammler, gerne auch gegen Geld. In Schule kann ich mir Messenger als große Bereicherung vorstellen: Als konkreten Schulmessenger mit klaren Regeln, klar definierten Gruppen, und je älter und reifer die Kinder werden, umso offener kann man den Umgang damit gestalten. Natürlich ändert das nichts an all den Problemen, die über private Messenger wie WhatsApp entstehen, jedoch ist dann niemand gezwungen, diese schulisch zu nutzen.

Denn am Ende ist der tollste Unterrichtseinstieg per WhatsApp nichts wert, wenn Kinder seelisch zu Schaden kommen.

Eine Lanze für die Digitalisierung

Wahnsinn. Dirk von Gehlen bricht eine Lanze… nein, eigentlich schlägt er im Alleingang eine Bresche,  versucht förmlich, im Alleingang einen ganzen Wall an Vorurteilen niederzureißen.

Zum einen formuliert er „Fünf Fragen zur angemessenen Smartphonenutzung“ auf seiner eigenen Homepage. Zum anderen stellt er in seinem Artikel auf Süddeutsche.de  („Digitalisierung: Keine Panik!“) die Spitzers dieser Welt in Frage. Für Menschen, die Computer schon vor Vollendung ihre 30-ten Lebensjahres kennengelernt haben nichts Neues (Douglas Adams grüßt), alle anderen sollten beides mal gelesen haben.

(Und ja, das ist Altersdiskriminierung. Aus Gründen. Niemand muss sich angesprochen fühlen…)

Die Kontraproduktivität des Hypes

Nur ganz schnell verbloggt: Andreas Hofmann schreibt darüber, warum das ganze Gehype des digitalen Lernens sich kontraproduktiv auswirkt. Sehr bedenkenswert.

Warum stammen die besten Medienberater eigentlich alle aus Niedersachsen? Kenne nun schon zwei, die die Wucht sind. (Im „Schlusslicht-bilden“ ist NRW aber auch ungeschlagen, ich mache mir da keine Hoffnung mehr…)

 

Wie ein kleiner Lernroboter

Ein Impulsvortrag. Eine junge Kollegin einer benachbarten Schule steht in der Aula vor dem Kollegium und beschwört die Segnungen des selbstgesteuerten Lernens. Man erstelle einfach ein paar Lernpakete mit Checklisten zur Selbstkontrolle und dann könnten die Schüler einfach loslegen. Das Ausarbeiten der Pakete – nun ja – das habe schon einiges an Zeit und Mühe gekostet, aber wenn diese einmal fertig seien, dann könne man sie ja immer nutzen und müsse nur noch anpassen. (Heute bin ich mir sicher, dass das der Traum aller Lehrer ist. Immer. Unerfüllbar.) Die Schüler könnten dann eigenständig, im eigenen Tempo lernen, sich selbst kontrollieren und der Lehrer als Coach begleitend aktiv werden.
Ich kann mich erinnern, durchaus beschwingt und motiviert aus dem Vortrag herausgegangen zu sein. Loslegen! Anpacken! Jetzt sofort. Und wäre das nicht alles noch viel toller, wenn man das Ganze mit Hilfe des Computers gestalten könnte?

Digitale Selbststeuerung

Jörg Dräger, Autor des Bandes „Die digitale Bildungsrevolution“ und Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung, hat genau diese Lösung vor Augen. Er berichtet in einem Interview im SWR Aula-Podcast „Lernen im Netzwerk – Die Bildung und die digitalen Medien“ von Algorithmen, mit deren Hilfe Schülerinnen und Schüler in Zukunft (und gewiss unterstützt von tollen Programmen der Bertelsmann-AG) lernen sollen. Die Schüler bekommen ihre Aufgaben digital zugewiesen und ein Computerprogramm berechnet nach Beendigung der Übung, welche Fehler besonders geübt werden müssen:

Die Schüler kommen morgens in die Schule und sehen auf dem Bildschirm: „Aha, ich muss an Station 7 noch Bruchrechnen wiederholen.“ Während andere Schüler der Klasse schon viel weiter sind und an ganz anderen Lektionen arbeiten. Lehrer werden ihre Lernbegleiter. Es findet eher Arbeit in Gruppen oder einzeln statt als im gesamten Klassenverband. Da ist wirklich die gesamte Pädagogik verändert. Digitalisierung ist ein ganz wichtiges Hilfsmittel, weil die Kinder mit Lernsoftware oder Videos arbeiten. Sie können sich z.B. ein Erklärvideo angucken, wenn sie etwas nicht verstanden haben, ohne sich wegen Rückfragen im Unterricht blamieren zu müssen. Und sie haben eben einen Algorithmus, der ein individuelles Curriculum für jeden berechnet.

Klingt aus dem Mund Drägers ganz großartig und die Rationalisierung von Lehrerstellen ist inbegriffen, denn irgendwie muss das teure Zeug (Hardware, Lizenzgebühren für die Software) ja finanziert werden:

In der New Yorker Schule, die wir besucht haben, sind 90 Kinder in einem Klassenzimmer. Aber die sitzen natürlich nicht alle hintereinander und gucken auf eine Tafel, sondern sie sitzen an runden Tischen oder in kleinen Einzelboxen und arbeiten entweder miteinander oder für sich. Die Lehrer laufen herum und helfen dort, wo ihre persönliche Hilfe dringlich ist.

Großraumbüroatmosphäre. Von Kreativität, vom Gestalten, wie zu Beginn des Interviews, ist übrigens keine Rede mehr. Erklärvideos. Den Nürnberger Trichter füllen. Nix Diskussion, Debatte, Austausch, Vertiefung. Wie auch? Debatte über moralisch-ethische Fragen mit Siri führen? Okay, Google?

Um den Begriff des „selbstgesteuerten Lernens“, der sich anhand der Beschreibung des Verhaltens der Schüler der New Yorker Schule aufdrängt, drückt sich Dräger auf Nachfrage des Interviewers herum, im Kern geht es aber genau darum:

Das Ziel ist schon, dem Schüler Lernen lernen beizubringen. […] Inzwischen geht es aber nicht mehr so sehr um Wissen wissen – das kann ich zur Not auch im Internet nachgucken –, sondern es geht mehr darum, eine Lernmethodik zu haben, mit der ich mir Neues beibringen kann, […]. Und wenn ich die Quizfrage nicht richtig beantworten kann, dann sagt mir das Programm vielleicht, die letzten fünf Minuten des Videos zu wiederholen. […] Das Feedback gibt dem Schüler Auskunft über sein eigenes Lernverhalten, über seinen Wissensstand, der Schüler überschätzt sich nicht, er unterschätzt sich nicht und wird so zu einem selbstverantwortlichen Lerner.

Das klingt schon etwas widersprüchlich, oder? Das Wissen der Welt liege im Netz, man brauche nicht mehr Wissen zu lernen, aber wehe, der Schüler kann die Quizfrage (!) nicht richtig beantworten? Und dann muss er das Video wiederholen, obwohl das ja nach der drägerschen Logik Unsinn ist, weil er das Wissen ja jederzeit im Video abrufen kann!? Crazy stuff, dieses neue Lernen. Und wer gestaltet eigentlich die Curricula, deren Inhalte ja niemand mehr zu lernen braucht, weil diese ja im Internet permanent abrufbar… ach, das ist aber auch kompliziert.

Wie auch immer. Folgt man Dräger soll erstens der Unterricht im Wesentlichen automatisiert gesteuert werden. Nötig sind dafür möglichst leicht abzufragende und messbare „Kompetenzen“, die man unkompliziert in „Quizfragen“ o. Ä. abfragen kann. Eine Vorstufe des Ganzen findet man ja schon in den Lernstandserhebungen in Klasse 8, wo das Leseverständnis über Multiple Choice-Abfragen ermittelt wird (Was der Schüler tatsächlich verstanden hat, wissen wir nach Auswertung der Tests auch nicht; wir wissen nur, ob er falsch oder richtig angekreuzt hat). Zweitens sollen die SuS sich anhand des ihnen computerisiert vermittelten Feedbacks in puncto Lernverhalten und Wissensstand einschätzen und ihr weiteres Lernen regulieren (lassen). Drittens: Wenn alles nichts mehr hilft, muss der leibhaftige Lehrer ran.

Man merkt, ich bin nicht überzeugt. Dass Dräger vor den SWR-Aula-Hörern den Begriff des selbstgesteuerten Lernens meidet, liegt zum einen darin begründet, dass er nicht verhehlen kann, dass die Steuerung des Lernens maßgeblich über den Schulcomputer funktioniert, zum anderen mag es seinen Grund aber auch im Podcast von Matthias Burchardt haben, der an gleicher Stelle genau eine Woche vor dem Interview Drägers publiziert wurde und der zu gänzlich gegensätzlichen Erkenntnissen kommt.

Eine Krise des selbstgesteuerten Lernens?

Im Podcast „Wir machen alles alleine. Die Krise des selbstgesteuerten Lernens“ (Link zum Script) zerpflückt Bildungsforscher Dr. Matthias Burchardt das Mantra des selbstgesteuerten Unterrichts.

Nun Lerner statt Kind

Burchardt kritisiert, dass sich die Befürworter des selbstständigen Lernens zwar der Begrifflichkeiten bedienen, die in Tradition der humanistischen und aufklärerischen Tradition stehen, diese aber nicht in einem aufklärerischen Sinne umsetzten. Darüber hinaus verweist er auf den neutralisierenden Begriff der „Lernerin“ und des „Lerners“, welcher die sozialen Beziehungen, die mitgedacht werden, wenn man von „Kindern“ oder „Schülern“ spricht, begrifflich beiseite schiebt:

Das Kind hat Eltern, der Schüler hat Lehrer, der Lerner hat Strategien und Probleme, die er im Austausch mit anderen optimal lösen soll.

Kybernetik statt Didaktik

Im Folgenden zeigt Burchardt eindrucksvoll, wie der selbstständige Lerner funktionieren soll:

Wenn nun der Lerner kein Kind und kein Schüler mehr sein darf, wie sieht dann sein Innenleben aus? Es ähnelt einer Schaltzentrale aus der Roboter-Technik. Schließlich soll er in der Lage sein, das (Zitat) eigene „Lernen [zu] regulieren, […] sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen.“ (Höfer/Madelung 2006, 159). Die Lerner – heißt es weiter – „halten […] ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie.“ (ebd. 19).

Burchhardt führt aus, dass der oben zitierte Sprachgebrauch letztlich dem der Kybernetik entstammt und erläutert am Beispiel eines selbstregulierenden Heizungsthermostats, wie das Lernen der Zukunft zu funktionieren hat. Das Ergebnis ist erschreckend nah an dem, was uns Dräger als Zukunftsvision verheißen möchte:

Wie ein kleiner Lernroboter navigiert der selbstgesteuerte Lerner über die Klippen der Lernumgebungen, die ihm durch Lernpakete und Wochenpläne Aufgaben mit auf den Weg geben. Er steuert dabei die Ziele an, die im Raster vorgegeben sind. Er vergleicht Ist- und Soll-Werte seiner Kompetenzen, wählt und reflektiert seine Lernstrategien, bis er die Lernziele erreicht. Defizite in der Selbststeuerung sollen mittels Feedback in einem Coaching-Gespräch beseitigt werden.

Für Burchhardt stellt das Konzept des selbstständigen Lerners ein Konzept dar, das sich nicht damit auseinandersetzt, wie Kinder lernen, sondern welches beschreibt, wie man Kinder zu selbstgesteuerten Lernern umerzieht. Darüber hinaus beurteilt er es als ein „anti-humanistisches, im Wortsinne un-menschliches Modell, weil es vom Kind verlangt, sich wie eine kybernetische Maschine zu verhalten“. Die Mängel und Oberflächlichkeiten, die durch das technisierte Messen, Soll-Ist-Werteabgleich und das Feedback, im Gegensatz zu umfassender Urteilskraft, Auseinandersetzung, Kritik oder Würdigung, entstehen, sieht Burchhardt letztlich als Gefahr:

Wie deformierend müssen diese Modelle erst wirken, wenn Menschen danach geformt werden?

Schlechtes „Feedback“ für das kybernetische Lernen

Den theoretischen Schwächen des Konzeptes gesellen sich die praktischen hinzu. Burchhardt zählt auf, woran es mangelt, wenn Schulen versuchen, das Konzept des selbstgesteuerten Lernens praktisch umzusetzen:

  • hohe Arbeitsbelastung, trotz zusätzlicher Ressourcen
  • Leistungskontrollen nur noch anhand oberflächlicher Merkmale wie Vollständigkeit, Seitenzahl, Deckblattgestaltung, formaler Richtigkeit; wenig Beachtung der inhaltlichen Qualität
  • Überforderung der Schülerinnen und Schüler
  • hohes Maß an Unterrichtsstörung

Wirtschaftliche und politische Interessen am selbstregulierten Lernen

Burchhardt befürchtet, „dass es Unternehmen gibt, z.B. im Bereich der IT-Branche, die gut darauf vorbereitet sind, in die Lücke zu springen, die der degradierte Lehrer hinterlässt. Vermutlich wird man es als Entlastung empfinden, wenn die Lernpakete seitens der Verlage produziert und als Lernsoftware präsentiert werden. Unter dem Schlagwort „Digitalisierung des Lernens“ läuft derzeit eine umfangreiche PR-Kampagne für den Einsatz von Digitalen Geräten in Schulen.“ Und tatsächlich ist Schule ein Milliardenmarkt für die großen Unternehmen, und Lehrer werden unter diversen Labels zu „zertifizierten“ iPadMicrosoftGoogle-Lehrern „ausgebildet“ und dienen als Hubs in die doch eher konservative Lehrerschaft.

Und auch in der Politik sieht Burchhardt Interessenten an dem „Neuen Lernen“:

Die Aufforderung zur Selbststeuerung passt auf eine zynische Weise ideal zum Abbau der sozialen Solidaritäts- und Sicherungssysteme: So wie der Selbstgesteuerte Lerner schonend mit der Ressource Lehrer umgeht, so fällt der selbstgesteuerte Bürger der Gemeinschaft nicht zur Last: Die Themen seiner sozialen Absicherung, seiner Bildung, seiner Gesundheit sind allein sein Problem. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Armut sind dann Konsequenzen mangelhafter Selbststeuerung, die er selbst optimieren muss.

Der Impulsvortrag – wie würde ich ihn mir heute wünschen?

Netzlese

Zunächst ein Hinweis auf ein Interview zum Unsinn der Ver-Ökonomisierung der deutschen Schulen, bei dem man die ganze Zeit „Ja!“ schreien möchte. Jochen Krautz, Autor des Buches „Ware Bildung“ kritisiert die Ökonomisierung und die Lobbyarbeit der Wirtschaftsverbände. Das Problem benennt Krautz wie folgt:

In den entsprechenden Abteilungen der Wirtschaftsverbände sitzen eben Bildungsökonomen. Und die haben nicht nur keine Ahnung von Pädagogik, sondern denken in den unzulänglichen Kategorien neoliberaler Wirtschaftstheorie, die längst zum alleinigen Paradigma der Wirtschaftswissenschaft geworden ist.

(Und jetzt ärgere ich mich, dass ich den Podcast von SWR Aula oder Wissen gelöscht habe, in welchem genau diese einseitige Denkarmut der aktuellen Wirtschaftswissenschaften massiv bemängelt wurde. Es scheint da nicht viel Diversität in der Lehre zu geben.)

Ganz so drastisch sehe ich die Probleme, die im Interview ausgesprochen werden, allerdings nicht; zwar ist das „selbstgesteuertes Lernen“ ein aktueller Trend, dass aber Kinder „an isolierten Arbeitsplätzen“ „vereinzelt“ würden, davor seien die Lehrer. Den schnellen Kindern kommt das eigenständige Lernen nämlich sehr entgegen, den anderen hilft es wenig, aber als Lehrer bin ich ja vor Ort dabei. Kein Grund zur Panik.

Deutlich hingegen die Kritik an der OECD:

Die OECD hat dazu schlicht kein Mandat, setzt aber massiv manipulative Mittel ein, um ihr ökonomistisches Konzept durchzusetzen. […] Anpassung ist also das Ziel, nicht Mündigkeit. So hat die OECD mit den PISA-Studien ihr Kompetenzkonzept eingeführt, nach dem nun alle Schulen unterrichten. Durchgesetzt wird das mit einem Überwachungssystem von Tests und Standards, ständig überprüft mithilfe sogenannter „empirischer Bildungsforschung“.

(Und während ich das lese, fällt mir die Abschlusspräsentation der drei Damen und Herren am Ende unserer „Qualitätanalyse“ ein, bei welcher der hochbezahlte Leiter dem Kollegium aufzählte, wie viele Meldeketten sein Team beobachtet hätte. Dass das eher in die Kategorie Quantitätsanalyse fallen könnte, ist ihm nicht aufgefallen, aber Zahlen wirken ja immer so schön.)

Was hat die Schule denn vom Internet?

Was hat die Schule denn vom Internet?“, fragt Christian Füller in einem sehr informativen Artikel zum Thema OER (Open Educational Ressources) und stellt in Frage, wie nützlich die öffentliche Förderung von OER ist, solange man am Großteil der Lehrer vorbeiproduziert und die großen Verlage nicht miteinbezieht.

Zudem weist Füller auf den wunden Punkt der OER hin, dass nämlich nur unter immensem Aufwand Rechtssicherheit für die einzelnen Teilgeber hergestellt werden kann, denn „copy, remix and share“ sind nur solange toll, solange dem fleißigen Remixer kein Anwaltsschreiben auf den Tisch flattert:

Wer ein bearbeitetes Lernblatt, Video oder Schaubild wieder im Netz teile, der hafte in vollem Umfang für Fehler – auch für Urheberrechtsverletzungen, die der Erstautor womöglich begangen hat.

Spannend wird es werden, wenn mit Logineo in diesem Jahr eine Plattform in NRW eingeführt wird, die durchaus das Teilen von Material aus unterschiedlichen Quellen zu gestatten scheint. Spätestens dann wird es wohl oder übel zu einer Flurbereinigung kommen. Allerdings: Solange es keine Möglichkeiten gibt, Materialien aus dem Netz konkret einzusetzen, ist jede Diskussion sowieso Schaumschlägerei. Dann werden nämlich weiter Folien in schwarzweiß aufgelegt.

Der Digital Education Day 2015 – #ded15

IMG_6985Voll, voller, Domplatte am Samstag! Was für ein Gedränge, was für Menschenmassen. Da kommt man sich als Bielefelder „Großstädter“ ganz klein mit Hut vor. Bevölkere nun unzählige Selfies fremder Menschen, habe einem Pärchen zum Küssen verholfen und war währenddessen auf der Flucht vor unzähligen Jungesellinnenabschieden, denn 30% der auf der Domplatte befindlichen Frauen schien mit Vierzigprozentigem angefüllt. Aber alles harmlos, was ein Glück, dass die Hogesa-Spinner erst Sonntag kommen!

Doch eigentlich war ich nicht in Köln, um mir die Menschen auf der Domplatte anzuschauen, sondern um mich über digitale Medien zu informieren, denn man hatte zum „Digital Education Day 2015“ gerufen, und da Köln in Schlagweite liegt, war ein Besuch mehr als angebracht… und lohnend!

Das liegt zum einen am offenen Format des Barcamps, das ja auch „Unkonferenz“ genannt wird, wobei man ihm mit der Vorsilbe „Un“ aber Unrecht tut. Neben schon gesetzten Veranstaltungen kann jeder Teilgeber spontan seine eigene Session anbieten und sich so auch aktiv mit eigenen Themen einbringen. Auf diese Weise kommen schnell bis zu 40 Sessions zusammen und jeder Besucher kann sich seinen eigenen Sessionplan zusammenstellen. Ich entschied mich für die Schwerpunkte BYOD, iPads im Unterricht, Elternarbeit und digitale Medien sowie Inklusion und iPads.

BYOD oder Office365

Das Thema BYOD begann mit einer schönen Übersicht der technischen Infrastruktur des Erich-Gutenberg-Berufskollegs in Köln, mutierte dann aber schnell zu einer überwiegenden Werbeveranstaltung für Microsofts Office365 (und einem beeindruckenden Touch-Tisch), welches unbestreitbar seine Vorzüge hat. Angeblich gebe es keine Probleme mit dem Datenschutz wegen der Serverstandorte in Irland und Holland, jedoch verzichte man vollständig darauf, personenbezogene Daten mit Office365 zu verarbeiten.

Microsoft scheint alles daran zu setzen, dass potenzielle Kunden sich frühestmöglich an seine Office-Suite gewöhnen, denn das Angebot für Schulen ist gewaltig: Von kostenlosen Office-Lizenzen für über 2500 Schüler und die Lehrer, dem Vorhalten von Backups bis hin zu kostenlosen Fortbildungen gibt Microsoft so einiges, damit wir Schulen möglichst unsere Schüler auf seine Office-Suite konditionieren.

Am Berufskolleg setzt man mittlerweile vollständig auf BYOD, die Schüler dürfen über die Geräte frei entscheiden, der Großteil der Schüler bringt jedoch sein Notebook mit. Schön war es hier, mal Einblick in die Medieninfrastruktur und die Probleme anderer Schulen bei der Medienentwicklung zu bekommen und zu sehen, dass nicht immer, nein, nie! alles glatt läuft.

iPads im Unterricht

Die Session zu iPads im Unterricht verließ ich nach der Hälfte der Zeit, weil ich die Möglichkeiten meines iPads und diverse mögliche Präsentations-Apps schon kannte. Wer sich damit noch nicht beschäftigt hatte, konnte hier wertvolle Tipps zum Umgang und Einsatz mit den Geräten im Unterricht bekommen.

Elternarbeit – Bleiben Sie dran

In einer sehr kleinen Session intensiven Austausch mit Matthias Felling von der AG Kinder- und Jugendschutz (AJS NRW) gehabt. Mitgenommen habe ich neue Links, z. B. zu www.schauhin.info und www.elternundmedien.de, wo man auch Referenten finden kann, die für Informationsabende zur Verfügung stehen. Klicksafe.de kannte ich schon, das ist ja schon lange etabliert. Schöne und eigentlich naheliegende Ideen brachte Felling ein: Zum Beispiel, dass man den SuS doch vorschlagen könne, bei WhatsApp Gruppen, die Organisatorisches zum Inhalt haben (z.B. Hausaufgaben), von privaten Tratsch-Gruppen zu trennen. Analog zu den Gesprächsregeln im Klassenraum müsse man auch Umgangsformen im Netz mit den SuS entwickeln.

Eltern mal nach ihren Medienerfahrungen zu befragen, das werde ich beizeiten auch mal machen. Diese geraten dann schnell ins Schwärmen, erzählen vom Sandmännchen und den schönen Samstagabenden mit „Wetten dass…?” und langen Radiositzungen. Dagegen sähen Eltern die heutigen Medien mit ganz anderen Augen – das bietet schöne Gesprächsanlässe. Fazit: Viele Anregungen!

Inklusion und iPads

Gut gefiel mir auch die Session zu „Inklusion und iPads“, denn so hatte ich mein iPad noch nicht kennengelernt. Es ist wirklich beeindruckend, was man aus den Bedienungshilfen für körperversehrte Menschen alles herausholen kann. Ein nahezu blinder, anwesender Kollege erzählte begeistert, dass die Entdeckung der Tablets für ihn bahnbrechend gewesen sei. Seine 2% Sehkraft könne er nun mithilfe der neuen technischen Möglichkeiten kompensieren und auch selbst wieder kreativ arbeiten. Dass man auch Hörgeräte und Joysticks für Menschen, die nicht touchen können, mit den Pads koppeln kann, war mir ebenfalls neu. Zudem stellte die Referentin einige Apps vor, die sowohl im DaZ-Bereich als auch im klassischen Inklusionsbereich eingesetzt werden können. Auch der Hinweis, dass Krankenkassen bisweilen die Kosten für die Tablets übernehmen, kann mal nützlich sein.

Ein Wermutstropfen

Einen Wermutstropfen muss ich aber auch vertröpfeln. Zu oft standen in den Sessions die technischen Möglichkeiten der Geräte oder mancher Apps im Vordergrund, wenig Worte wurde über konkrete Unterrichtssituationen, technische Probleme oder best practice verloren. Für schon medienaffine Lehrer, die gerne ihre Geräte ausprobieren, springt bei solchen Sessions nicht viel heraus, wir müssen vielleicht demnächst mehr in die Breite gehen, die Mediennutzung einzelne Fächer thematisieren oder einfach mal zeigen, was man so im Unterricht mit den Geräten gemacht hat.

Auch pädagogische Probleme wurden eher am Rande behandelt, dabei macht das doch den Kern unseres „Geschäftes“ und unseres Alltages aus. Sehr schade darum, dass die Session zum Thema Elternarbeit von nur drei Personen bestritten wurde, wo doch gerade die „digital education“ abseits von iPads und Office für Vermittlungsbedarf zwischen Schulen und Elternhäusern sorgt und ich das immer wieder als brennendes Thema wahrnehme.

Vielleicht demnächst, beim DED16 als Teilgeber?

Mit digitalen Medien besser lernen?

Christian Ebel hat zu einer Blogparade mit dem Titel „Mit digitalen Medien besser lernen?“ aufgerufen und ich habe mich lange gefragt, was sollte ich eigentlich dazu beitragen können, wo das „digitale Lernen“ in meinem täglichen Unterricht eine eher untergeordnete Rolle spielt, gleichwohl ich jeden Tag auf Twitter und Co. verfolge, wie andere Kolleginnen und Kollegen das digitale Lernen langsam aber nachdrücklich in ihren Alltag einbauen. Könnte ich hier überhaupt eine sinnvolle Antwort auf Christians Frage formulieren?

Ich versuch’s mal. Wenn ich in meinem Unterricht die Stärken digitaler Medien kennengelernt habe, dann liegen sie vor allem im Bereich des Schreibenübens. Das kollaborative Arbeiten hat ja nur im weitesten Sinne gut funktioniert, bessere Erfahrungen habe ich hingegen vor längerer Zeit mit einem kleinen Blogexperiment und einem selbstgehosteten Blog gemacht. Das war zu einer Zeit, als der schulische Laptopwagen in unserem Oberstufengebäude noch voll einsatzfähig war.

Ein kurzes Blogexperiment

Im Versuch mit dem Blog ging es darum, dass die SuS eines Grundkurses Geschichte ihre schriftlichen Quellenanalysen ins Blog stellen sollten. Alle SuS hatten dann im Rahmen einer Arbeitsphase die Aufgabe, in Partnerarbeit mindestens drei andere Analysen zu kommentieren, positive sowie negative Aspekte herauszustellen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Der Grund für dieses Herangehensweise war, dass ich es in meinem normalen Unterricht niemals schaffe, alle Übungstexte eines kompletten Kurses durchzulesen und sinnvoll zu kommentieren (weshalb man ja auch schon in der analogen Welt dazu übergeht, sogenannte „Schreibkonferenzen“ abzuhalten). Diese Situation empfinde ich bis heute als sehr unbefriedigend, weil ich ja gerne sowohl den ganz schwachen SuS Unterstützung bieten möchte, aber auch den Schülerinnen und Schülern, die schon ganz ordentliche Texte schreiben. Selbst den besten Schülern kann man immer einen Tipp zur Verbesserung oder Optimierung auf den Weg geben. Und wenn man noch nie eine Quellenanalyse formuliert hat, dann sind sowieso alle Schüler erst einmal unsicher.

Die Erweiterung dieser Schreibkonferenzen in den digitalen Raum versprach einiges an Erleichterung:

  • Jakob Siebebpfeiffer,1832 | Blog zur Unterrichtsreihe Nationalismus und Nationalstaat

    Beispiel für einen Kommentar

    jeder digitale Text ist für jeden Schüler gut lesbar, da die oftmals unleserliche Handschrift wegfällt

  • jeder Text wird gewürdigt und bekommt einen Kommentar, der ihm Stärken und Schwächen sowie Verbesserungsvorschläge aufzeigt. Auch diese sind gut lesbar und müssen nicht an den Heftrand gequetscht werden.
  • jeder Kommentator übt sich darin, Texte qualitativ zu bewerten (und erweitert damit seinen Horizont für die eigenen Texte)
  • alle Texte stehen online und können bei Bedarf als „Blaupause“ verwendet werden

Das funktionierte insgesamt gut und auch die Rückmeldungen der SuS waren positiv. Alle Schülerinnen beteiligten sich sichtbar im Rahmen einer „sonstigen Mitarbeit“, niemand zog sich – wie im Unterrichtsgespräch – heraus. Könnte man dieses Verfahren über die ganze Unterrichtszeit einsetzen, könnten die SuS verschiedene Klausurtypen üben und diese wären jederzeit bis zum Abitur verfügbar.

Leider ging die Hardware unserer Laptops aus dem Laptop-Wagen kurz darauf kaputt, niemand reparierte oder ersetzte sie, sodass ein Fortsetzen dieser Arbeit nicht mehr möglich war. Ob also diese Methode langfristig etwas verbessern würde, kann ich letztlich nicht beurteilen. Weitere Projekte dieser Art finden wegen der fehlenden Ausstattung nun schon lange nicht mehr statt, denn ob ich einen Computerraum „erwische“, das steht in den Sternen und erlaubt mir keine verlässliche Unterrichtsplanung. Ich arbeite also wieder zu 99,9% mit Heft und Stift.

Besser lernen mit digitalen Medien? Vielleicht – wenn die Hardware vorhanden ist und der Schulträger sich verantwortlich zeigt.

Denn schön wär’s doch!

Mit meinen schreibintensiven Fächern Deutsch und Geschichte habe ich täglich in allen Altersstufen mit Schülern zu tun, denen das Schreiben schwer fällt,  das manuelle Schreiben ebenso wie das inhaltlich-strukturierte Schreiben, und wenn man diesen Schülern dann auch noch damit kommt, dass sie ihre Texte überarbeiten sollen, dann ist der Ofen ganz schnell aus: Den sowieso schon eher lustlos mit blauer Tinte ins Heft geschriebenen Text jetzt auch noch „überarbeiten“, ergo: neu schreiben? Oder mit Sternchen und Fußnoten so erweitern, dass man am Ende auch nicht besser durchblickt? Dann lieber an einer Tastatur – und ohne schmierende Tinte, klebriges Tipp-Ex und kratzende Füller!

Wie schön wäre es, wenn wir lange Texte generell an einem (dafür geeigneten) digitalen Medium schreiben könnten. Texte zu überarbeiten wäre ein Klacks, verschiedene Versionen ließen sich gewinnbringend vergleichen, Schrift wäre immer lesbar und auch das Schreiben würde denen, die feinmotorisch nicht so beschenkt sind, vielleicht etwas mehr Freude bereiten.

Das wäre eine echte Bereicherung durch digitale Medien. Könnte man damit besser schreiben lernen? Ich glaube schon.

Wir sollten uns langsam daran gewöhnen

Eine Studie wabert durch meine Filterbubble und durch die deutschen Medien. Ihre Aussage: Ein Verbot von Handys an Schulen fördere den Lernerfolg, so das Ergebnis: Die Schulleistungen verbesserten sich um 6,41%, wenn die Schüler auf das Handy verzichteten, was etwa dem Lerneffekt einer zusätzlichen Woche entspreche.

Das ist harter Tobak für uns medienaffine Lehrer, die neue Medien eher als Chance denn als Gefahr begreifen. Grund genug, sich die Studie etwas genauer anzuschauen, eine Aufgabe, der sich schon Herr Larbig angenommen hat.

Offene Fragen

Einige Fragen stellen sich beim flüchtigen Lesen der Studie. Zum Beispiel trennt sie begrifflich nicht zwischen Handys und Smartphones (in der Studie wird nur unscharf von „mobile phones“ gesprochen). Die Studie bezieht sich auf Daten von 2001 bis 2011. Kaum eine Technik hat in dieser Phase eine rasantere Entwicklung miterlebt als die Welt der Handys und Smartphones (Nokia galt 2001 noch als Branchenriese, heute gehört Nokias Handysparte Microsoft). Inwiefern hat dieser durchaus gewaltige Unterschied zwischen Handys und Smartphones Niederschlag gefunden in den Ergebnissen der Studie? Inwiefern schulische Konzepte zur (Nicht-)Nutzung von Handys / Smartphones?

Medien verbinden Menschen

Bei all dem Genöle über die Studie möchte ich noch auf einen wunderbaren Artikel in der ZEIT verweisen: Kilian Trotier berichtet dort von dem Anthropologen Daniel Miller, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, zu untersuchen, „was Soziale Medien mit Menschen machen. Und was Menschen mit Sozialen Medien machen.“ Und er kommt zur gelasseneren Einsichten:

Das Leben wird durch Technik vermittelt. Miller kann daran nichts Schlechtes finden. Jedes persönliche und direkte Gespräch sei mediatisiert, es folge impliziten Regeln und Konventionen. Nur seien sie so tief in den Habitus eingelassen, dass niemand sie mehr als Regeln und Konventionen wahrnehme.

Technik entfremdet, macht einsam, verstört, steht zwischen Individuen. Miller hasst diese Sätze. „Menschen sind durch digitale Technologien nicht einen Deut stärker mediatisiert“, sagt er. Ein koreanischer Computerspieler sei nicht mehr und nicht weniger authentisch als ein Stammespriester in Ostafrika. „Kultur ist doch immer vermittelt!“

[…]

Es rege ihn auf, sagt er, wenn Wissenschaftler eine Studie über Freundschaft auf Facebook mit 300 amerikanischen Collegeschülern machten und die Ergebnisse auf japanische Hausfrauen übertrügen.

Wir sollten uns daran gewöhnen, dass unsere Kultur sich, wie eigentlich immer, gerade im Wandel befindet. Und wie so oft katalysiert durch Technik, vermittelt durch Medien, diesmal eben digitale.

Ob’s uns nun gefällt oder nicht. Wir sollten uns langsam daran gewöhnen.

Vor dem Podium

Wenn das nicht mal ein Fehler war, die Heizung auszuschalten. Brrrr. Schnatter.

Smartphone vs. ReclamGestern Abend eine Podiumsdiskussion der Grünen zum Thema „Smartes Lernen – Zwangsdigitalisierung des Unterrichtes?“ besucht, welche von der didaktischen Leiterin einer Bielefelder Schule, einem Schülervertreter, einer Medienwissenschaftlerin und dem Sprecher für Netzpolitik und Datenschutz der Grünen bestritten wurde. Letztlich drehte sich die Diskussion (vor allem innerhalb des Plenums) überwiegend darum, ob man mit Smartphones überhaupt ordentlich recherchieren könne und ob der Brockhaus(!) nicht doch…. Und dass man auf Smartphones doch keine Romane lesen könne, weil die Schrift zu klein… orrr (siehe Bild)!

Die meisten Anwesenden waren sich aber einig, dass die neuen Medien aus der Schule nicht mehr wegzudenken sind und dass das Urheberrecht einer dringenden Reform bedarf. Auch, dass es eine alle Jahrgänge betreffende Medienbildung geben sollte, war Konsens. Nur ein Biokollege wetterte über die Ausfälle der Technik und die hohen Kosten („Dann lieber das veraltete Schulbuch!“ – Schüler: „In meinem Geschichtsbuch ist noch Helmut Kohl der aktuelle Kanzler!“) – was tatsächlich ein neuralgischer Punkt ist, denn allzu langlebig ist die Technik nicht. Und ob man alle vier Jahre einen neuen Satz Smartgeräte anschaffen will, ist eine nicht zu vernachlässigende Frage. Dass die Tablets und Smartphones hingegen ganze Batterien von alten Medien (Fotokameras, Videokameras, Mikrophone, Taschenrechner etc.) ersetzen, wurde nur am Rande gestreift, es wurden eher die Gefahren betrachtet als der Nutzen. Dabei spielen die Geräte ihre Stärke besonders dann aus, wenn man sie produktiv einsetzt.

Sehr angenehm auf dem Podium fiel mir Prof. Dorothee Meister von der Uni Paderborn (Medienpädagogik und empirische Medienforschung) auf, deren Position ich nahezu vollumfänglich teilen konnte. Nur die Frage, ob man eher auf BYOD oder eine leichter zu integrierende „Das-gleiche-Gerät-für-alle-Schüler“-Lösung setzen sollte, könnte ich noch nicht für mich beantworten, da beide Ansätze ihre jeweiligen Vorzüge und Schwächen haben. Frau Meister entschied sich für die Einzelgerätelösung.

Video Kills The Classroom-Star?

Auf Twitter geben sich regelmäßig mehr oder weniger große und kleine Hypes die Klinke in die Hand. Aktuell ist der „Flipped Classroom“ in meiner Bubble en vogue. „Flipped Classroom“ bedeutet, dass die Schüler zuhause Erklärvideos schauen und dafür die Unterrichtszeit zum Üben, Diskutieren und Anwenden nutzen. (Polemisch formuliert: Statt der herkömmlichen Lesehausaufgabe schaut man nun Videos. Falls ich hier ungenau bin, dann mögen die passionierten Flipper gerne in den Kommentaren korrigierend eingreifen. 😉 ). 

Und so kam es, wie es kommen musste, vor einigen Tagen auf Twitter zu einer polemisch angehauchten Auseinandersetzung, ob Text nicht doch etwas „old school“ wäre, und ich wollte schon twittermäßig voll reingrätschen, alleine schon, weil „old“ nicht gleichzusetzen ist mit „schlecht“ und wegen der einhundertausend Vorteile von Text, aber dann… nutze ich nicht auch andauernd irgendwelche Videos, um mir Dinge erklären zu lassen? Und lernen nicht andauernd alle möglichen Menschen um mich herum Neues aus YouTube-Videos? 

Youtubifizierung des Lernens 

Das Lernen mit Video ist nichts Neues. Schüler werden schon seit Generationen vom Telekolleg, ratternden Videorollen, leiernden VHS-Videos oder DVDs begleitet. Und mit YouTube ist das doch noch besser geworden:

Erst letzte Woche noch hatte ich keine Ahnung, wie ich die Gangschaltung des Fahrrads meiner Tochter einstellen sollte. Schnell bei Google gesucht, und einen Haufen unverständlicher Texte gefunden. Schwupps – auf YouTube das passende Video gesucht: Nach nur fünf Minuten war mir halbwegs klar, was zu tun war. Die Schaltung funktioniert wieder. Ein weiteres Beispiel: Meine Frau hat gerade das Häkeln für sich entdeckt. Gelernt hat sie es nicht in teuren Kursen oder mit Büchern Aus der Bibliothek, sondern ganz einfach per YouTube. 

Auch den Song „Road Trippin'“ der Red Hot Chili Peppers habe ich per Video gelernt. Was ich nämlich nicht gelernt habe, ist es, Noten zu lesen und dank YouTube kann ich trotzdem Gitarre spielen. Die Kombination von Hören und eingeblendeter Tabulatur machen das Nachspielen viel leichter. Wie beim Häkeln oder der Gangschaltung: Manchmal ist es eben einfacher, wenn man das Ergebnis sehen und hören kann. 

Besonders dann, wenn die visuelle Unterstützung sich direkt auf das Lernergebnis auswirkt, sind Videos hilfreich. Es ist also doch etwas dran am Lernen per Video. 

Zeit

Auf der Gegenseite steht die Ökonomie: Videos zu konsumieren dauert sehr viel länger, als die gesprochene Menge an Text zu lesen. Dabei rast der Inhalt auch noch in Echtzeit am Konsumenten vorbei: was verpasst wird, wird verpasst, das Zurückspulen kostet wiederum viel Zeit. In der Regel meide ich Lernvideos oder Videomitschnitte von Vorträgen, weil das Dargestellte oft schneller zu lesen wäre. Den Hanse-Mooc bei Iversity habe ich nach wenigen Videoschnipseln drangegeben, weil mir die Zeit am Ende einfach zu schade war. Ein Text zur Einführung in die Geschichte der Hanse wäre hier zielführender gewesen. 

Von der Zeit für das Erstellen eines guten Videos wollen wir gar nicht sprechen. Natürlich hätte ich diesen Text schnell in eine Kamera quatschen können, aber selbst dabei hätte ich mich zigmal versprochen und neu starten müssen. Ein gutes Video braucht Vor- und Nachbereitung, unter Umständen eine zweite Kamera, vielleicht sogar einen eigenen Kameramann oder jemanden, der visuelle Effekte gekonnt einarbeitet, denn wir sprechen ja von Lernvideos. In meinem Arbeitsalltag undenkbar. Und gekonnt sein, muss es auch. Und wenn es aus irgendeinem Grund Mist ist, kann man es nicht schnell korrigieren. Hm. 

To flip or not to flip?

Überträgt man das auf Schule im Ganzen, dann sehe ich da für mich wenig Möglichkeiten, den „Classroom“ per Video zu „flippen“ ohne dabei Unmengen an Zeit zu verbraten, und zwar sowohl meine Zeit als auch die Zeit der Schüler. 

Text hat eben seine eigenen unschlagbaren Vorteile. Man kann ihn im eigenen Tempo lesen, schnell vor- und zurückblättern, anmerken, hat Begriffe unmittelbar vor Augen und kann komplexe Sachverhalte schnell sowie gründlich erfassen. Fußnoten erlauben schnelle Ergänzungen, ohne vom Kern wegzulenken, und Komplexes darf komplex bleiben, weil der Leser ja alle Zeit der Welt hat, wieder und wieder zu lesen und nachzuvollziehen. Was einer in zehn Minuten in eine Kamera salbadert, habe ich in einem Drittel der Zeit weggelesen. Ich kann innehalten, wenn mir danach ist, Gedanken weiterspinnen oder in aller Ruhe Notizen machen. 

Und jetzt bin ich doch wieder beim Text gelandet. Bin ich etwa zu old school?