Inklusion: Arbeit an Fallbeispielen

Gestern wieder einmal fortgebildet worden und zum ersten Mal das Gefühl gehabt, einen kleinen Einblick in den Alltag mit Inklusionskindern zu bekommen. Dabei beschränkte sich die gestrige Informationsveranstaltung nur auf ESE-Kinder (verhaltensauffällige Kinder).

Und da wären wir schon beim ersten Absurdum: Der Fortbildner erklärte uns, er sei Schulleiter einer Förderschule mit dem Schwerpunkt ESE. Maximal 50-60 Schüler, 1 Lehrer für ca. 14 Schüler, Klassen immer in Doppelbesetzung, alle mit dem gleichen Förderschwerpunkt, hochgradig ausgebildetes und ausgesuchtes(!) Personal. Bei uns gibt’s das demnächst für ’nen Euro fuffzich neben dem normalen Unterricht; wir bedienen sogar gleich mehrere Förderschwerpunkte und haben immerhin ’ne tolle Fortbildungsreihe lange Informationsveranstaltung absolviert. Ich kann mir nicht helfen, aber auch unsere Fortbildner wirken bisher durch die Bank weg alle nicht überzeugt von dem neuen „Modell“.

Der sehr sympathische Herr gab dann gleich zu Beginn ein Erlebnis vom gleichen Tag zum Besten, bei dem mir das Blut in den Adern gefror und welches ich hier nicht wiedergeben mag. Dass es an Förderschulen auch für Lehrer ein spontan durchführbares „Auszeit-Modell“ gibt, war danach sehr einleuchtend. Nachdem uns erklärt wurde, dass die Beziehungsarbeit – bei allen Problemen – das Wichtigste für ESE-Kinder sei (bei bald bis zu acht unterschiedlichen Fachkollegen für die Kinder gewiss sehr leicht!), mussten wir Maßnahmen für Fallbeispiele durchdenken, z.B. wenn ein Kind permanent durch Geräusche den Unterricht stört oder ständig aus der Klasse läuft. Das war schon fast erleichternd, im Vergleich zum Eingangsbeispiel, und körperliche Gewalt kam auch nicht darin vor, die erwähnte der gute Mann nur nebenbei im Kontext der primären Sozialisation, deren schlimme Folgen wir demnächst auffangen müssten.

Und wie wir mit geistig behinderten und lernbehinderten Kindern umgehen (und was uns da erwarten mag), dazu bildet man uns  informiert man uns (vielleicht) ein anderes Mal.

Frau Kurtz über Inklusion

Einen schönen Kommentar von einer bayerischen Realschullehrerin zur Inklusion an Regelschulen findet sich heute in der Süddeutschen: „Gleichmacherei ist nicht gleich gerecht“. Sie erläutert, was aus ihrer Sicht falsch läuft, wenn Inklusion so praktiziert wird, wie es aktuell von der Politik geplant ist.

Ein behindertes Kind in eine Regelklasse zu setzen und den Lehrern zu sagen: Das ist jetzt Inklusion, fördert dieses Kind bitte individuell, geht auf sein Handicap ein – das jedenfalls ist nicht gerecht. Nicht gegenüber dem Kind und auch nicht gegenüber den Lehrkräften und den anderen Schülern der Klasse.

Einfach einmal lesen, Frau Kurtz plaudert auch ein wenig aus dem Nähkästchen, was sehr interessant ist, obwohl die Inklusion noch gar keine Rolle spielt. Und am Ende bringt sie die Realitätsferne der Debatte um Inklusion auf den Punkt:

Wer also kritisiert, dass an bayerischen Schulen zu wenig Inklusion stattfindet, den möchte ich gerne einmal einladen, sechs Stunden lang an meinem Schulalltag teilzunehmen.

Damit trifft sie genau den Punkt. Ich hatte schon vor ein paar Jahren einmal beschrieben, dass viele Menschen Unterrichten offensichtlich nicht als wirklich anspruchsvolle Aufgabe wahrnehmen, sondern eher als ein Austeilen und Auswerten von Arbeitsblättern, unterbrochen von Geschwafel, definieren. Kann ja jeder, und ein paar Inklusionskinder nebenher, joa mei, das würde ich doch auch mit links machen!

Dabei ist immer wieder interessant, wie im gesellschaftlichen Diskurs ausgerechnet den Lehramtsstudenten permanent Praxisferne vorgeworfen wird, gleichzeitig aber jeder Hannebummel vermeint, seinen – natürlich hochqualifizierten – Senf zu Praxisthemen wie der Inklusion im Unterrichtsalltag darbieten zu können. Das Ergebnis dieser „Ich-stelle-mir-Unterricht-vor“-Kompetenz habe ich ja in der Bielefelder Ausschusssitzung erlebt…

Petition zum Erhalt der Förderschulen

BisüberbeideOhren. Darum kaum bloggen. Ein kurzer Hinweis auf die Petition zum Erhalt der Förderschulen (via TwoedgedWord) sei gestattet. Der zweite Teil meiner Inklusions-Fortbildung fühlte sich wie eine Wiederholung des Referendariats an. Der Lerneffekt ist gleich Null, wir kommen uns etwas verschaukelt vor. (Fall-)Beispiele? Einblicke in die Arbeit der Sonderpädagogen? Tipps? Hinweise? Wenigstens eines der ansonsten so verhassten Rezepte? Gibt’s nicht. Dafür wird unsere Schule nun demnächst an fünf Standorten unterrichten dürfen, denn das bald leerstehende Gebäude der Förderschule muss ja wieder sinnvoll gefüllt werden.

Ach, das werde sich alles schon zurechtruckeln, ließ man uns während der öffentlichen Ausschusssitzung im Rathaus wissen. Fundierte Argumente, eine erkennbare Auseinandersetzung mit dem Thema hatte offensichtlich nur bei der CDU stattgefunden; der Rest des Kaffekränzchens ergab sich im Gedankenlos-alles-gut-finden. Man brauchte bei Kaffee und Tee auch nur die Hand zu heben, um sich einen weiteren unsichtbaren Verdienstorden anheften zu dürfen; mit den schlechten Bedingungen klarkommen müssen dann andere.

Hilfe! Inklusion!

Woah, die einführende Fortbildung zum Thema „Inklusion“ war heute eine Menge, das muss ich erst einmal verarbeiten. Mit viel Optimismus bin ich in diese Fortbildung hineingegangen und sitze nun mehr als desillusioniert vor meinem Laptop. Dabei hatte ich im Halbtagsblog schon so viel Gutes über die Inklusion gelesen, und eigene Erfahrungen aus meiner Oberstufenzeit sowie aus meiner Steinzeit-AG haben mir Inklusion sehr positiv vor Augen geführt. Bis heute hatte ich aber immer Kinder mit eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten vor Augen, die kognitiv durchaus in der Lage sind, einem gymnasialen Unterricht zu folgen. Doch dem wird nicht so sein.

ESE- und L-Kinder

Ich bin mit der Sonderpädagogik-Fachterminologie noch kein Stück vertraut, habe aber so viel verstanden, dass insbesondere sogenannte „ESE-“ und „L-Kinder“ zu uns kommen werden. „ESE“ steht für „Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung“, ergo (sorry, wenn ich das gerade durch eine sehr schmale Brille sehe) Kinder, die Schwierigkeiten haben, ihr Verhalten und ihre Gefühle zu kontrollieren. Das L in „L-Kinder“ steht für Lernschwierigkeiten. Diese Kinder haben so große Probleme beim Lernen, dass ihnen schon die Grundschule Schwierigkeiten bereitete. Dass man ausgerechnet die nun aufs Gymnasium schickt, beweist, dass die größten Zyniker nicht unter den Philosophen, sondern im nordrheinwestfälischen Bildungsministerium zu finden sind.

Weitere Erkenntnis: Die Klassenstärke (aktuell hat meine Klasse 31 Kinder) soll offensichtlich nicht wesentlich herabgesetzt werden. Nett wäre auch, so der fortbildende Förderschulkollege, wenn die Inklusionskinder gruppenweise gebündelt würden, damit sie ein Gruppengefühl entwickeln könnten.1 Sollte es so kommen, dann dürften sich einige Klassenlehrer also nicht nur über die drei Hannebummel freuen, die man sowieso in jeder Klasse hat, sie hätten unter Umständen obendrein noch gleich eine Hand voll ESE-Kinder zu bändigen.

Zieldifferent

Nun, dass wir an unser Gymnasium Inklusionsschüler bekommen würden, die wir auch „zieldifferent“ unterrichten werden, das war schon klar. „Zieldifferent“ bedeutet, dass es von vornherein nicht das Ziel ist, dass die Kinder am Gymnasium ein Abitur anstreben. Kein Problem, auch im normalen Regelbetrieb schaffen nicht alle Kinder es bis zum Abitur, das kennen wir bereits. Dass die „Zieldifferenz“ aber derart weit entfernt vom gymnasialen Standard liegen würde, wie es uns der Förderschulkollege schilderte, das hätten wir uns wohl nicht ausgemalt.

„Ein Förderplan in Klasse 5 könnte z. B. darin bestehen, dass ein Kind den Zahlenraum im Schuljahr auf 100 erweitert.“ Die entsetzten Mathekollegen mussten ihre aufgerissenen Augen vom Tisch klauben, denn das steht nun wirklich nicht im aktuellen Lehrplan. „Viele Kinder bekommen bei uns gar keinen Abschluss. Auch der Hauptschulabschluss ist da unerreichbar.“

Das Ende vom Lied scheint mir nun zu sein, dass Inklusion in NRW wie folgt aussieht: Die zu inkludierenden Schüler werden in irgendwelche Klassen gesteckt, arbeiten ihre persönlichen Förderpläne ab (wenn überhaupt, wenn man den Ausführungen des Förderschulkollegen glauben darf) und wir sind die Deppen, die neben dem gymnasialen Unterricht noch eine zweite bis dritte Unterrichtsvorbereitung aus dem Hut zaubern dürfen, je nachdem, wieviele zieldifferente Kinder man denn in einer Klasse hat. Großartig. Das wird natürlich keinesfalls ausgrenzend wirken, wenn manche Kinder das Bruchrechnen erlernen, während andere zeitgleich den Zahlenbereich bis 100 erproben.

Inklusives Classroommanagement

Besonders für Kinder mit emotional-sozialem Förderschwerpunkt sollte ein Klassenraum reizarm gestaltet sein. Eine Reizüberflutung sollte vermieden werden. (Versucht mal, eine Reizüberflutung zu vermeiden, wenn da noch 25 lebhafte andere Kinder sitzen, die sich ja auch gerne mal ablenken!)2 Laufwege zu Materialien müssten gegebenenfalls mit den Kindern abgesprochen werden, um Konflikte und Störungen zu vermeiden. Tische sollten so stehen, dass alle SuS jederzeit gesehen werden können, „Allgegenwärtigkeit“ war überhaupt das Schlagwort des heutigen Tages. Überwachung ein anderes. Bloß nicht zur Tafel drehen! Keine Pointe.
Sinngemäß fiel auch folgender Satz: „Das Sitzen am Tisch müssen Sie mit den Kindern zum Teil erst einüben. Dafür wird einiges an Zeit draufgehen.“ Meine Kinnlade fand den Boden nicht mehr.

Dazu hübsche Fotos aus einer der nun bald aufgelösten Förderschulen: Teppichboden, hohe Fenster, hübsche Räume mit ausreichend Platz für Materialboxen und ganze sechs Tische pro Klasse. Bilder einer Schule, in der Lehrer bis zu 20 Stunden pro Woche mit derselben Lerngruppe verbringen und gefühlt zwanzig Tafeln mit sozialem und organisatorischem Budenzauber aufbauen können. „Für jede positive Verhaltensweise stecken sie einfach ein blaues Kärtchen neben den Namen an die Pinnwand, falls sich jemand daneben benimmt…“ Aber ich habe da nicht nur sechs Namen, sondern über fünfundzwanzig und nein, ich belohne pünktliches Erscheinen zum Unterricht nicht mit einem blauen Kärtchen!

Vorläufiges Fazit

Nachdem wir nun als Schule gerade das G8 verpackt, die QA verarbeitet und den Ganztag endlich bis in Klasse 9 hochgezogen haben – und das alles gleichzeitig –  beglückt man uns mit der Inklusion. Allem Bisherigen konnte ich bislang schon im Vorfeld Positives abgewinnen, doch diese Form von „Inklusion“ scheint mir ein pädagogisches Selbstmordkommando zu sein. Vielleicht verschätze ich mich ja jetzt aufs Schlimmste (wollen wir’s hoffen), aber wenn Inklusion nichts weiter bedeutet, als dass ich mich ohne ausreichende Ausbildung und mit miserablen Ressourcen nun als billige Sonderpädagogikaushilfskraft verdingen soll, dann werde ich auf Dauer meine Konsequenzen ziehen und meine Prioritäten überdenken müssen.
Sehr gespannt bin ich auch auf die Reaktionen der Eltern. Wir haben als Schule durchaus schon Erfahrung mit verhaltensauffälligen Kindern gemacht; die Eltern der anderen Kinder werden mit den Füßen abstimmen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Kind zurückzustecken hat.

Man merkt’s wohl: Ich bin nicht im Geringsten begeistert von der Inklusion, wie sie mir heute präsentiert wurde, und ich habe zum ersten Mal in meinem Berufsleben „den Kanal voll“. Weitere Fortbildungen stehen an. Ich bin sehr gespannt, wie’s weitergeht. Angeblich wird ja nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.


  1. Nicht, dass sich das mit dem großen Ziel der In(!)-klusion beißen würde… 
  2. Der neueste Schrei sind Textmarker, die aussehen wie Kosmetiktübchen…