Im Tiefschlaf alle Veränderungen verpennt

Dass Schule eine statische Institution sei, in der sich schon seit der Kaiserzeit nichts mehr getan habe, ist einer der dauerhaftesten und ermüdendsten Vorwürfe, denen man als Lehrer regelmäßig begegnet. Aber über die gammelige Schule zu meckern ist immer schön schnell erledigt und man bekommt Likes, Likes Likes!

Und da gerade dieser Tweet in meiner Timeline herumgeistert, dachte ich mir, ich erläutere mal, was sich aus meiner Perspektive geändert hat, seit ich die Schule verlassen habe, denn das sind mittlerweile ziemlich genau zwei dieser vergangenen Jahrzehnte.

Das Erste, was mir im Referendariat auffiel, war, dass die Schüler viel mehr präsentierten, wie selbstverständlich Referate hielten und sogar den Unterricht selbst gestalteten. Referate waren in meiner Schulzeit (an drei verschiedenen Gymnasien) nur Sonderaufgaben für unter Notendruck geratene Schüler oder Strafaufgabe gewesen. Die Schüler, denen ich begegnete, lernten hingegen systematisch, Inhalte aufzubereiten und zu präsentieren. Und nicht nur das: Die heute so selbstverständliche Facharbeit in der Oberstufe gab es in meiner Schulzeit überhaupt nicht. Eine längere schriftliche Arbeit, in der man wissenschaftliche Arbeitsmethoden anwenden lernen sollte, eigene Thesen formulieren und Literaturrecherche betreiben sollte – das gab es vor wenigen Jahrzehnten nicht. Mir gefiel diese Entwicklung, hatte ich doch in meinem ersten Semester an der Universität noch mit der wissenschaftlichen Arbeitsweise zu kämpfen gehabt. Das Einüben des wissenschaftlichen Arbeitens konnte nur eine positive Neuerung sein.

Weniger gefiel mir die im Zuge der PISA-Studie aufkommende Entwicklung hin zur zentralisierten Testung der Schulen. Auch die hatte es vor zwanzig Jahren nicht gegeben, doch plötzlich waren PISA und IGLU tonangebend. Das Zentralabitur wurde eingeführt und VERA 8 sowie zentrale Abschlussprüfungen an anderen Schulformen eingeführt. Alles neu und letztlich einschneidende Veränderungen, von denen man annehmen muss, dass sie noch nicht am Ende sind – blickt man z. B. auf ein bundesweit vereinheitlichtes Abitur.

Nebenher zerfiel und zerfällt die altbekannte Schullandschaft. Die Eltern meldeten ihre Kinder nicht mehr an den Hauptschulen an, die mit ihrem zunehmend schlechten Ruf als „Resteschulen“ zu kämpfen hatten. Neue Modelle werden gesucht, die Realschule verliert mittlerweile als „Ersatzhauptschule“ ähnlich an Wertschätzung wie die Hauptschule zuvor, und der Trend zum zweigliedrigen, vielleicht sogar lokal eingliedrigen Schulsystem ist absehbar. Das sind eklatante Umbrüche im Schulsystem, die eigentlich jeder beobachten kann, der mit halbwegs offenen Augen der Tagespresse folgt.

Schule war in meiner Schulzeit eine Halbtagsangelegenheit, heute ist es das erklärte Ziel, möglichst viele Ganztagsschulen zu etablieren. Ein Ganztagsgymnasium war in den 90ern undenkbar, ich hingegen arbeite heute in einem. Wir haben den 45-Minuten-Rhythmus dankenswerterweise abgeschafft und nutzen ein 90-Minuten-Modell. Andere Schulen, auch das erfuhr ich staunend im Referendariat, haben sich auf ein 60-minütiges Modell geeinigt. Auch das sieht man nicht so schnell, wenn man es im eigenen Umfeld nicht erlebt, aber Schule ist nicht so statisch, wie man sich das gerne einredet.

Dank Ganztag haben wir eine Reihe weiterer Neuerungen, die vor zwei Jahrzehnten an meinen Schulen nicht zu denken gewesen wären: Direkt in meinem Schulgebäude haben mittlerweile zwei SchulsozialarbeiterInnen ihren Arbeitsplatz gefunden, und jede Klassenleitung hat alleine für Klassenbelange ausgewiesene Klassenleitungsstunden zur Verfügung. Meine Klassenlehrer haben das noch alles vom ihrem Fachunterricht abgeknapst. Auch neu sind sogenannte „Lernbarstunden“, die im Prinzip Freiarbeitsstunden sind, in denen die Schüler klassenweise an eigenen Arbeitsschwerpunkten arbeiten. Dabei ist es hilfreich, dass nicht alle Arbeitsphasen im Klassenraum stattfinden müssen, denn an meiner Schule (und auch an anderen, die ich besucht habe) gibt es mittlerweile zahlreiche Arbeitsflächen außerhalb des klassischen Klassenraumes. So kann man im Foyer, auf dem Flur oder auch in der Cafeteria, im Schulgarten oder auf der Außenterrasse arbeiten. Völlig undenkbar in meiner Schulzeit!

Wen das eigene Arbeiten nicht weiterbringt, der muss sich nicht mehr, wie in meiner Schulzeit, alleine auf die Nachhilfe verlassen. Schulinterne Fördersysteme sorgen dafür, dass auch Kinder aus weniger betuchten Elternhäusern die Möglichkeit fachlicher Förderung bekommen: dafür gibt es bspw. von Fachlehrern betreute Lernbüros (kostenlos), fachspezifische Förderkurse (kostenlos) oder das Modell „Schüler fördern Schüler“ (günstig). Solche tollen Einrichtungen gab es an meinen Schulen nicht.

Jemand, der aus den 90ern kommend durch meine Schule laufen würde, würde schnell feststellen, dass sich in einigen Klassen bis zu fünf Erwachsene gleichzeitig aufhalten – und sich niemand daran stört. Die Inklusion ist bei uns angekommen und zieht sich durch fast alle Klassenstufen. Eine Klasse, aber zwei Klassenräume, viel Grundschulmaterial, Klassenteamtreffen oder das Unterfangen, zielgleiche und zieldifferente Kinder an einem Gymnasium gleichzeitig zu unterrichten, das würde, davon bin ich überzeugt, einen Zeitreisenden mehr als verblüffen.

Integrationsklassen lernte ich zwar schon Anfang der 2000er kennen, da waren sie allerdings Metier der Hauptschule. Mittlerweile machen wir auch das an meinem Gymnasium – und Kinder, die nahezu kein Wort Deutsch können, werden so gut wie möglich in unseren fachlich orientierten Unterricht und die soziale Gemeinschaft integriert. Auch das etwas, dass ich an meinen Schule so nie erlebt habe.

So. Das waren meine 2 Cent. Ich finde, es hat sich während der letzten Jahrzehnte verdammt viel verändert in der Schullandschaft, und es gäbe bestimmt noch weitaus mehr, das man hier aufzählen könnte. Das hier habe ich jetzt spontan heruntergeseiert, obwohl heute Samstag ist und ich an diesem Tag eigentlich keine unnötige Sekunde an „Schule“ verschwenden möchte. Man kann all diese Veränderungen ignorieren, hat dann aber wohl eher selbst die letzten Jahrzehnte im Tiefschlaf verbracht. Und – uh, oh, ich habe ja noch gar nichts über Technik geschrieben…

Nachtrag

Eine entscheidende Veränderung habe ich ganz vergessen, die aber nur für gebundene Ganztagsschulen gilt: Die Abschaffung der Hausaufgaben! Noch so eine „unerhörte“ Veränderung, die einen Zeitreisenden in pures Erstaunen (und vielleicht sogar Entsetzen) versetzt hätte.

7 Gedanken zu „Im Tiefschlaf alle Veränderungen verpennt

  1. Eine längere schriftliche Arbeit, in der man wissenschaftliche Arbeitsmethoden anwenden lernen sollte, eigene Thesen formulieren und Literaturrecherche betreiben sollte – das gab es vor wenigen Jahrzehnten nicht.

    Es kommt sicherlich auch darauf an, wo – auch vor 30 Jahren waren anderswo Facharbeiten bereits der Regelfall. (Ob man daraus wirklich wissenschaftliches Arbeiten lernt, ist eine andere Frage …)

    • Das gilt für den ganzen Beitrag: Der ist natürlich subjektiv aus meinem Erleben von Schule heraus geschrieben. An der Nachbarschule kann es ganz anders ausgesehen haben. Aber in meinem Freundeskreis, der auch andere Schulen besucht hat, und aus meiner Erfahrung an den drei Schulen, die ich in drei unterschiedlichen Städten besucht habe, ist das so gewesen, wie oben geschildert.

      (Wissenschaftliches Arbeiten lernt man so natürlich nicht und schon gar nicht „ad hoc“, aber die Sensibilisierung für die Arbeit mit Quellen, fürs Zitieren, das Schreiben längerer Texte, das vollständig eigenständige Arbeiten – das war schon ein Schritt nach vorne.)

  2. Sorry, aber für mich hat sich die Schule nicht wirklich verändert. Ein Schüler kann

    sich seinen Lehrer immer noch nicht aussuchen
    muss sich von ihm immer noch belehren lassen, ohne darum gebeten zu haben
    er muss sich immer noch mit Gleichaltrigen in Klassenverbänden zusammenraufen, ob er will oder nicht
    ob ihm nach 45, 60 oder 90 Minuten gesagt wird, er darf mit dem (geheuchelten) Interesse aufhören und Pause machen, ist doch irrelevant
    für die Lehrer mag die Verlängerung wichtig sein, haben sie doch mehr Zeit für IHREN Unterricht

    Du schreibst es ja selbst: Die Schüler sollen nach wie vor. WAS sie sollen, spielt noch keine Rollen und auch nicht wie „human“ dieses Sollen daherkommt. Am besten sollen die Schüler wollen. Sie bieten inzwischen von alleine an, ein Referat zu halten oder eine Nachprüfung machen zu wollen. Und warum? Um beispielsweise eine bessere Bewertung zu bekommen. Sie glauben, Bewertung sei wichtig.

    Nach wie vor ist die Erziehung zum Gehorsam die wichtigste Aufgabe der Schule. Es geht nicht ums individuelle Lernen. Der Schüler hat dem Lehrer zur Verfügung zu stehen. Umgekehrt wäre es richtig.

    Und für mich das Allerwichtigste: Den Schulanwesenheitszwang gibt es immer noch. Das ist für mich die Nagelprobe. So lange man bestraft wird, wenn man den ganzen Plumperquatsch nicht (mehr) mitmachen will, ist die Schule eine autoritäre Erziehung- und Belehrungsanstalt und keine Bildungseinrichtung. Dass sie den Rohrstock durch psychischen Druck ersetzt hat, ist für mich keine wirkliche Veränderung.

    Mir ist durchaus bewusst, dass auch Lehrer davon betroffen sind. Der Fall Sabine Czerny aus Bayern macht das mehr als deutlich. Aber Lehrer sind freiwillig in der Schule. Dies gilt für den größeren Teil der Schüler nicht.

    • Klar, Schule hat sich nicht um 180 Grad gewendet – und nach wie vor bestehen dort alte Machtstrukturen, aber darum ging es mir im Beitrag auch nicht. Mir ging es nur um die Aussage, in Schule hätte sich all die Jahre nichts getan – und das sehe ich anders. Siehe oben.

      Auch über die Schulpflicht kann man sich zurecht empören. Ich persönlich aber bin mir sicher, dass ich heute hier nicht mit dir schreiben würde, kein Lehrer geworden wäre und vermutlich in ziemlich sonderbarer Gesellschaft wäre (und nein, ich meine keine kriminelle Gesellschaft), hätte es keine Schulpflicht für mich gegeben. Ich bin froh, dass ich zur Schule gehen musste. Die positiven Effekte überwiegen hier die negativen.

      Was wäre denn deine Alternative, wie müsste „Schule“ für dich aussehen?

  3. Wie müssten Schulen ausehen? So wie demokratische Schulen halt aussehen. Es gibt im Internet einen dreiteilige Film über demokratische Schulen in verschiedenen Ländern. Der Film wurde von einem Lehrer gemacht, der inzwischen selbst eine demokratische Schule gegründet hat. Hier der Link zum 1. Teil des Films.

    https://youtu.be/S3X3FgOd_bU

    Des Weiteren gibt es eine Reihe von Texten, die von Mitarbeitern und Unterstützern der Sudbury Valley School in den USA stammen. Ebenfalls übersetzt von einem Mitbegründer einer demokratischen Schule.

    http://sudbury-berlin.de/sudbury-schulkonzept/texte/

    Aber ganz unabhängig davon ist meine tiefe Überzeugung, dass man Schulen zum Lernen nicht braucht. Dazu waren sie ja auch niemals gedacht. Sie waren immer, und sind es bis heute, ein Machtinstrument der Herrschenden.

    Das mag für die meisten Menschen befremdlich sein, aber wie gesagt: Ich bin davon tief überzeugt.

    • Danke für deine Antwort und die Links, Matthias! Ich komme leider erst jetzt dazu, eine Antwort zu schreiben. Jetzt sehe ich etwas klarer. Dem Sudbury-Konzept bin ich schon öfter begegnet, aber ich bin nicht so ganz überzeugt, ob das in der Breite wirklich umsetzbar wäre.

      Ich bin, nachdem ich im Studium großer Verfechter offener Schulformen war, seit dem schlimmen Skandal um die Odenwaldschule (in den indirekt auch die Bielefelder Lichtgestalt Hartmut von Hentig involviert war) sehr skeptisch gegenüber Konzepten, in denen man so tut, als gebe es keine gesellschaftliche Macht. Furchtbar, wenn diese Nivellierung dazu führt, dass Schutzbefohlene missbraucht werden. Ein gemeinsames Leben mit meinen Schülern ist für mich indiskutabel – dazu gibt es mir zu viele Berichte über Missbrauch. Darum halte ich mich bei diesen Konzepten mit Euphorie zurück.

      Du nennst Schulen „Machtinstrument[e] der Herrschenden“. Das sehe ich nur teilweise so und es klingt mir ein wenig zu sehr nach Absolutismus oder Diktatur. Sicherlich reproduzieren Schulen die Verhältnisse unserer (demokratischen!) Gesellschaft, jedoch sind sie auch Teil dieser sich verändernden Gesellschaft, verändern sich mit ihr mit und greifen, gesteuert über die Kultuspolitik, gesellschaftliche Themen auf und tragen sie an die kommenden Generationen weiter. Das muss man nicht gut finden, ist aber der Konsens, auf dem sich unsere demokratische Gesellschaft bewegt. Dabei ist der Föderalismus nicht zu vergessen, der ein absolutistisches Nutzen von Schule als „Machtinstrument“ erschwert.

      Ob man Schule letztlich als einen Ort der Unterdrückung oder einen der Ermächtigung betrachtet, ist auch eine Sache der Perspektive. Meine Schulzeit war in vielerlei Hinsicht auch nicht immer leicht. Dass ich dir heute dennoch als Akademiker begegnen darf – und nicht als ungebildeter Bauernsohn, der sein ganzes Leben auf dem Acker verbracht hat (mein Opa) oder als Fließbandarbeiter in einer Fabrik (mein Vater); dass meine Schwestern ihr Dasein nicht als Hausfrauen und Mütter (meine Oma, meine Mutter) fristen müssen, liegt daran, dass sie (Schul-)Bildung erfahren haben und unsere Gesellschaft sich als durchlässiger als in früheren Zeiten erwiesen hat. Ich bin auch heute noch sehr dankbar für die Möglichkeiten, die sich mir in unserer Gesellschaft geboten haben – ohne dass ich dafür irgendeinen materiellen Besitz oder besonderen gesellschaftlichen Status vorweisen musste.

      Du hast recht: Alleine zum Lernen braucht man keine Schule.  Aber ohne Schule und Schulpflicht, die Menschen aus allen Schichten gesellschaftliche Teilhabe anbietet, wäre es um unsere Gesellschaft weitaus schlechter bestellt, davon bin ich meinerseits überzeugt.

  4. Pingback: Demokratische Schule | Kreide fressen

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