Laut lesen oder leise?

Sie könnte ja fast ein Survivaltipp für Lehrer sein, wenn sie eine hohe Schülerbeteiligung simulieren wollen, die Frage: Wer will vorlesen? Doch ist das laute Lesen wirklich so beliebt bei Schülern und sorgt es nicht insgeheim für eine eher niedrige Beteiligung?

Bei mir war das so: Als Schüler habe ich das laute Lesen geliebt, solange ich laut lesen durfte. Lasen andere, habe ich schon im Stillen vorweggelesen und, während der Text geradebrecht wurde, gelangweilt aus dem Fenster geguckt. Und wenn ich laut lesen durfte, dann habe ich mich oft so auf das gute Artikulieren konzentriert, dass ich selber den Text hinterher noch einmal leise nachlesen musste, um zu wissen, was darin stand.

Lautes Lesen – eine Bremse für den Unterricht?
In meinem Unterricht habe ich den Eindruck, dass ich gerade in den unteren Klassenstufen zu oft laut lesen lasse, weil ich mir einbilde, jeder Schüler hätte dann den gleichen Stand. Aber ist das nicht nur Ausdruck eines dämlichen, langweiligen und schnelle Leser einschränkenden Gleichschrittunterrichts? Wären nicht stille Lesephasen sinnvoller, wenn man nicht gerade durch szenisches Lesen schon auf eine Interpretation hinarbeitet?

Auch bei Antolin, dem vermutlich bekanntesten Portal zur Leseförderung, setzt man jedenfalls auf leises Lesen, denn „lautes Lesen ist nicht gleich Leseverständnis“. Logisch, war ja bei mir früher auch so. Leises Lesen ist also besser, die Experten von Antolin müssen’s ja wissen. Doch so einfach ist das nicht.

Prof. Lösener von der PH Heidelberg weist darauf hin, dass „nicht übersehen werden [darf], dass lautes, halblautes und leises Lesen ein Kontinuum darstellen und nicht als Gegensätze aufzufassen sind. Denn das leise Lesen stellt lediglich ein verinnerlichtes lautes – oder wie man besser sagen sollte – artikuliertes Lesen dar.“ Er kommt zu dem Ergebnis: „Wer laut liest, ohne zu verstehen, was er liest, wird nur zu einer flachen Artikulation des Geschriebenen finden: Er wird Wörter und Sätze lesen, aber zu keiner differenzierten Sinngliederung des Textes gelangen.“

Darum fordert Lösener auch bis in die Sek II hinein das laute Lesen, denn „Lesen, also die sprechende und hörende Lesetätigkeit, bildet die Grundlage für den Erwerb einer breiten und vertieften Lesekompetenz, (welche dann auch Interpretationsfertigkeiten miteinschließt)“.

Swantje Ehlers[1. Ehlers, Swantje: Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache] hingegen widerspricht (S.115) der These, dass lautes und leises Lesen „identische Prozesse sind“. Der Artikulationsvorgang beim lauten Lesen beanspruche die Aufmerksamkeit des Lesers und könne dafür sorgen, dass wohl richtig intoniert werde, aber das Verständnis des Textes nicht mehr gegeben sei.

Und nun? Wie haltet ihr’s mit dem lauten Lesen im „nicht-szenisch-interpretierenden Unterricht“?

14 Gedanken zu „Laut lesen oder leise?

  1. Ich habe lautes Vorlesen in der Schule immer gehasst. Wie ich aber alles Vortragen vor der Gruppe gehasst habe. Ich hatte lieber meine Ruhe und habe mich selber mit dem Thema beschäftigt.

    Grüße,
    Felix

  2. Das ist eine schwierige Frage, aber ich denke, jeder kann da selbst zu einer Lösung kommen. Es ist korrekt, dass betontes Lesen nur zustande kommt, wenn der Sinn und die Gliederung von einzelnen Phrasen, Sätzen und ganzen Abschnitten verstanden wurde – sonst wird man immer (auch Erwachsene) „leiern“.

    Nun die Frage: Wie lesen wir Erwachsenen, wenn wir leise lesen? Es gibt das schnelle Lesen, „diagonal“, bei dem nur grob der Sinn des Textes erfasst wird. Ganze Absätze werden überhaupt nicht wahrgenommen. Und es gibt das normale leise Lesen. Dabei wird in Gedanken der Text artikuliert, vollständig ver- und betont. Ganz normal. Aber das muss man lernen! Leises, gründliches Lesen ist genauso langsam und vergnügt wie lautes, betontes Vorlesen. Wo ist hier der Vorteil oder Nachteil des einen oder anderen?

    Warum lesen wir Erwachsenen, wenn wir leise lesen und nicht nur den Text „scannen“, in Gedanken laut? Weil wir es gelernt haben. Textverständnis geht immer mit der Artikulation des Gelesenen einher, und sei es nur in Gedanken. Sogar beim groben „Diagonallesen“ werden die einzelnen wahrgenommenen Wörter, Satzteile, Phrasen in Gedanken artikuliert.

    Und jetzt soll mir noch einmal jemand ernsthaft erklären, warum lautes Vorlesen nicht gut sein soll. Natürlich haben alle Menschen da so ihre individuelle Geschwindigkeit. Aber Lernen im Klassenverband ist Lernen miteinander und voneinander, und das schließt das Erlernen von Rücksichtnahme auf langsame Leser ein.

    Grüße von einer Freiberuflichen, die sowohl in der Erwachsenenbildung als auch im Kreativunterricht für Kinder immer wieder vorliest und vorlesen lässt – jede Stunde.

    M. B. Weber

    • Es ist korrekt, dass betontes Lesen nur zustande kommt, wenn der Sinn und die Gliederung von einzelnen Phrasen, Sätzen und ganzen Abschnitten verstanden wurde – sonst wird man immer (auch Erwachsene) “leiern”.

      Das denke ich gerade nicht. Man kann auch betont vorlesen, ohne dabei den Sinn zu verstehen. Ich zumindest kann das. Richtig gutes szenisches Lesen bedeutet für mich auch immer ein vorheriges leises Lesen, bei dem ich meine Interpretation klären kann. In Schule lesen wir aber oft direkt laut.

      Lautes Lesen ist ja auch nicht „schlecht“, aber es behindert unter Umständen den Unterrichtsfluss und langweilt Schüler. (Ich lasse übrigens auch fast immer laut vorlesen, weil die Schüler das so gerne machen und ich mir einbilde, alle würden den Text mitlesen…)

  3. Ich sehe das ganz ähnlich wie du. Ich habe es auch geliebt, vorlesen zu dürfen, und mich dann so sehr auf das möglichst perfekte Vorlesen konzentriert, dass der eigentliche Inhalt völlig an mir vorbei gegangen ist.

    • Meinst du mit mangelnder Förderung das laute oder das leise Lesen oder etwa das Lesen im Allgemeinen? Bei letzterem würde ich widersprechen.

      Das Laut-Lesen-Können ist in meinen Augen auch nicht unbedingt ein Zeichen für einen guten Leser; ich habe schon Schüler beobachtet die grausig laut Lesen, aber ein hervorragendes Textverständnis haben.

  4. Definitiv kann man laut lesen, ohne den Sinn zu erfassen. Passiert mir regelmäßig, wenn ich K1 im Bett die wirklich allerletzte Gute-Nacht-Geschichte vorlese – das klingt (glaube ich) noch recht brauchbar, da mir am Ende öfter mal die Augen zufallen, kann ich den Inhalt nicht unbedingt sicher nacherzählen.
    Für den Unterricht teile ich deine Einschätzung: Wenn ich laut lesen lasse (was ich immer seltener tue), ist das zumeist die Verlegenheitslösung, bei der ich dann so tun kann, als ob alle auf dem gleichen Wissensstand sind. De fakto lesen nur wenige wirklich mit. Geschätzt ein Drittel der Klasse ist ganz woanders, ein Drittel hat bereits vorausgelesen, der verbleibende Rest meldet sich, weil sie
    gerade aufs Klo müssen oder lesen tatsächlich mit, weil ich angedroht habe, den Absatz abschreiben zu lassen, wenn der nächste Aufgerufene nicht weiß, wo wir waren. Zum Sinnerfassen gibts eindeutig bessere Möglichkeiten – insbesondere, wenn möglichst viele etwas vom Sinn haben sollen…

  5. Im Englischunterricht der Unterstufe lasse ich Texte erst einmal leise lesen, Vokabeln nachschlagen etc, dann wird laut gelesen (weil die Kiddies das lieben) und dann damit weitergearbeitet.
    In Deutsch lasse ich überwiegend leise lesen, eben weil ich der Meinung bin, dass sie mehr aufnehmen, wenn sie es im eigenen Tempo lesen. Sie müssen dann ja danach mit dem Text weiterarbeiten. Es sei denn natürlich, es geht um betontes oder szenisches Lesen. Das wird aber auch kleinschrittig eingeführt und begründet, warum was wie gelesen wird. Und da gehört als Vorstufe dann auch erst einmal das leise Lesen dazu, um den Inhalt des Textes zu verstehen.

    • Das finde ich auch, obwohl meine Praxis dem etwas entgegensteht, weil die Kinder eben so gerne laut vorlesen. Aber eure Kommentare bestärken mich darin, auch in der Unterstufe mal wieder öfter leise lesen zu lassen.

  6. Man muss wahrscheinlich zuerst mal die Frage stellen, wie gut die Lerngruppe liest. In einer sehr leseschwachen 6. Klasse dürfte jegliches laute Lesen zu einer Tortur für alle Beteiligten verkommen (und dazu kommt, dass diejenigen, die heimlich schon leise vorlesen möchten, um den Text zu verstehen, durch das laute Gestotter des/der Vorlesenden abgelenkt werden).
    Der Lerneffekt, den lautes Lesen für schwache (Vor)Leser/innen hat, dürfte so gut wie nicht vorhanden sein. Die Probe: Ein/e schwache Leserin stammelt einen Text laut vor – in der Regel hat sie/er hinterher nicht die Bohne einer Ahnung, worum es in dem Text ging.

  7. Mir wurde im Referendariat eingetrichtert, dass in der Erprobungsstufe sowieso zweifaches Lesen Pflicht sei. Deshalb gilt bei mir: Erst laut (Vorlesetraining), dann leise jeder für sich.

    Später finde ich den geübten Vertrag eines Textes, das laute, sinngebende Lesen im Unterricht – gerade im Fach Deutsch – wichtig. Und das muss geübt werden. Kurzgeschichte? Sachtext? Drama? Gedicht? Liest sich doch alles ganz anders.

  8. Ich finde ja die Reihenfolge erst leise und dann laut Lesen am sinnvollsten. Wirklich gut Vorlesen kann (wie schon mehrfach hier diskutiert) nur, wer den Sinnverstanden hat. Wenn jemand zwar artikuliert vorliest aber den Inhalt nicht verstanden hat, hört man das (finde ich).
    Ich habe Vorlesen immer geliebt und mache das auch heute noch gerne und zwar am liebsten mit Texten, die ich in- und auswendig kenne. Das macht doch dann erst wirklich Spaß!

    • Ich stimme da Anna völlig zu:
      Gute Lesetechnik führt zur persönlichen Texterschließung in der individuellen Erarbeitung eines Textes, die schließlich im umfassenden Leseverständnis mündet.

      Dies ist wiederum Voraussetzung für einen Vortrag, bei dem dann aber die Kompetenz des Vortragens im Mittelpunkt steht: Gutes Vorlesen macht den Text für die Zuhörenden „sichtbar“ und lebendig, indem es die Imaginationsfähigkeit anregt. (Hochgestochener formuliert: Vorlesen födert die Fähigkeit der Zuhörenden, mentale Modelle zum Gehörten entwickeln zu können, vgl. Barbara Schlücker, Kati Hannken-Illjes und Nicole Dehé : Zuhören versus Lesen – Verständnis literarischer
      Texte bei Schüler_innen.)
      Hier fördern sich lautes und leises Lesen gegenseitig, denn Vorlesen schult die Fähigkeit, sich das Vorgelesene wie im Kino vorzustellen (vgl. u.a. Dr. Britta Büchner, Isabel Boergen, Dr. David Gerlach und Michael Kortländer). Umgekehrt ist dieses „Kopfkino“, also die Fähigkeit, sich das Gelesene bildlich vorzustellen, auch beim leise Lesen ein wichtiger Faktor für das Leseverstehen und den Spaß am Lesen.
      Nur Kinder, bei denen der Textinhalt wie ein Film im Kopf abläuft, verstehen den Inhalt tatsächlich und haben Spaß am Lesen.

      In der Leseförderung kann man also auf beide Pferde setzen – die Frage ist: Wie können lautes und leises Lesen da sinnvoll miteinander verbunden werden?

      Lautes Lesen eignet sich gut als diagnostisches Mittel zur Überprüfung der Lesetechnik.

      Leises Lesen ermöglicht auf dem Weg zur Texterschließung bzw. Leseverständnis  ein individuelles Lesetempo und die Konzentration
      auf das Leseverstehen ohne jede Ablenkung  und mit der Möglichkeit, verschiedene Lesestrategien anzuwenden, die der laute Vortrag ausschließt: persönliches Lesetempo, Zurückgehen im Text,
      Retardierung, Imagination, Pausen etc. Eine auch bei Erwachsenen beliebte Technik
      zur Erschließung komplizierter oder verschachtelter Textpassagen jedoch  (und hier treffen sich lautes und leises Lesen wieder) ist tatsächlich auch das halblaute „Sich selbst-Vorlesen“.
      Zu der jeweiligen Berechtigungen von leisem und lautem Lesen und ihrer
      sinnvollen Kombination zur Leseförderung ist der Artikel hier aus meiner Sicht sehr erhellend: Christiane Frauen und Frauke Wietzke: Lautes oder leises Lesen. In Schulmanagement 2, 2008, S. 26ff.

       

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