Ideen zum Kanon

Ich hatte diesen Artikel schon am 3. Dezember angefangen, dann beim Schreiben bemerkt, wie komplex dieses Thema ist, um den Artikel darum in die Entwürfe-Tonne zu legen und ihn aufgrund einer gestrigen Twitter-Debatte nun doch wieder hervorzuholen. Thema der Debatte (mit @lisarosa, @eisenmed und @dunkelmunkel) war der „Kanon“ und der Streitpunkt der, ob man einen Kanon überhaupt braucht und ob man nicht im Sinne einer neuen Lernkultur auf ihn verzichten solle.

Mein Eindruck war nach einiger Zeit, dass die Debatte sich im Kreis drehte, weil unter den Diskutanten offensichtlich unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, was der „Kanon“ nun eigentlich sei. Darum hier meine Sicht auf den Kanon, aber wie oben schon angedeutet: Das ist alles Stückwerk und vorne und hinten nicht völlig durchdacht – dafür bräuchte man vermutlich auch weniger ein Blog, denn vielmehr eine Monographie. Das Folgende kann ich hier also nur thesenartig ausspucken:

  • Meiner Ansicht nach ist der Kanon die Summe dessen, was eine Gesellschaft für bemerkenswert erachtet. Der Kanon ist, wenn man ihn so versteht, gesellschaftlich determiniert, denn gewisse Inhalte (z.B. Romane, Filme, Musikstücke, Kunstprodukte, evtl. sogar ganze Genres) werden von einer gesellschaftlichen Masse als relevant und bildend verstanden. Als Trägerschicht mag dabei durchaus das Bildungsbürgertum fungieren, und zwar sowohl, indem es eine bestimmte Erwartungshaltung an den Tag legt, was man als Jurist, Arzt, Manager etc. wissen sollte, als auch, indem es sich für die Verbreitung des Kanons durch Journalismus, Universitäten und natürlich auch in der Schule verantwortlich zeigt.
  • Der Kanon ist nie neutral oder objektiv, sondern immer auch ein implizit politisches Instrument oder wenigstens ein Indikator für politische Grundhaltungen. Er ist vielleicht sogar ein Abziehbild seiner Gesellschaft – ein Spiegelbild dominierender und dominierter Kräfte. Und dennoch kann eine dominierende gesellschaftliche Gruppe den Kanon nicht einfach diktieren, da dieser in großen Teilen historisch gewachsen ist. Der Kanon entwickelt sich mit seiner Gesellschaft; ehemals kanonische Gegenstände verschwinden, neue kommen hinzu.
  • Es ist in meinen Augen Utopie, zu glauben, wir könnten den Kanon abschaffen: Wir würden uns automatisch immer wieder einen neuen kreieren. Bestimmte „treibende“ Gruppen würden immer wieder diskursiv neue Inhalte definieren, und dabei neue Autoren, Musiker, Maler, Künstler, Gegenstände über andere erheben, die damit faktisch zum neuen Kanon gerinnen würden. Es stellt sich letztlich nur die Frage nach der Deutungshoheit.

So weit erste unfertige Gedanken zum Kanon, viele Ideen / Problemstellungen kommen mir jetzt erst während der Auseinandersetzung. Nichtsdestotrotz denke ich, dass ich mit einem Kanon gut lehren kann – solange er mir ausreichend Wahlmöglichkeiten bietet.

25 Gedanken zu „Ideen zum Kanon

  1. Ich denke auch: Man sollte ihn nicht abschaffen – das wäre aus meiner Sicht zutiefst unvernünftig. Nehmen wir mal mein Fach – Mathe – als Beispiel. Soll hier nicht im Kanon stehen, welche mathematischen Kompetenzen man mindestens mal haben sollte, um als Bürger aktiv am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können? Ich denke an so etwas wie – nehmen wir mal ein triviales Beispiel – die vier Grundrechenarten. Wenn man der Meinung ist, dass ein Kanon nicht notwendig ist, dann muss man konsequenterweise auch zulassen, dass es beliebig ist, ob jemand die vier Grundrechenarten lernt oder nicht. Aber, ist das verantwortungsvoll? Ich denke nicht. Wenn man aber der Meinung ist, naja, Grundrechenarten sollten schon sein: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben Ihr erstes Element des Kanons gefunden. 🙂

  2. ja. aber man sollte unterscheiden zwischen „kanon von kompetenzen & praktiken“ (was ich nicht wirklich „kanon“ nennen würde, aber sehr wichtig finde zu listen & zu diskutieren) und „text-kanon“, also „inhalte, die man kennen muss“.

    ich persönlich habe gar nichts gegen einen inhalts-kanon, weil der dafür sorgt, dass sich überkreuzende denk- und kommunikationsfäden ergeben. nur ist es eben, wie du sagst: der kanon entsteht gar nicht dadurch, dass ihn jemand erklärt, sondern dadurch, dass er eben gilt. also ist es sinnlos, ihn zu kodifizieren.

    man kann nur nachsehen: was ist gerade wirksam als „kanon“, was kann ich sinnvoll benutzen, um zu den kompetenzen & praktiken zu gelangen, die wir für besonders wichtig halten?

    • Das sehe ich genauso! Fraglich ist allerdings, ob man von einem „Kanon von Kompetenzen&Praktiken“ sprechen kann oder ob man das nicht außerhalb des Definitionsbereichs des Kanons belassen sollte? Ist gerade nur ein Bauchgefühl… mit dem Kanon verbinde ich eher Inhaltliches als Praktisches.

  3. Hallo,

    was Martin schreibt, geht auch in die Richtung, die ich gestern kurz bei Twitter andeutete.

    Ich finde den Vergleich mit den „Grundrechenarten“ ungeschickt. Bei einem Kanon geht es eben nicht unbedingt darum, welche Kompetenzen man erwerben sollte, sondern ganz konkret darum, welchen Roman man lesen und analysieren muss. Ich finde durchaus, dass man das hinterfragen kann.

    Die Wirkung von Literatur auf Menschen ist doch sehr individuell. Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass Schüler selbst auswählen sollten, an welchem Drama sie welche Kompetenzen erlernen, einüben oder festigen möchten.

    Auf der anderen Seite hat der Kanon im Rahmen des Zentralabiturs für mich auch Vorteile. Ich kann quasi mit den Schülern auf einer Seite stehen. Wir können auch gemeinsam eine Lektüre doof finden;-) (oder wir können sie gemeinsam entdecken) und noch besser: Ich muss nichts an Unterlagen zurückhalten, weil ich wirklich nicht weiß, welche Stelle aus welcher Lektüre geprüft werden wird.

  4. Okay, dann liegt eine Begriffsverwirrung auf meiner Seite vor. Ich hab es als Diskussion um Bildungsstandards verstanden. Insofern: wenn es tatsächlich um einen Inhaltskanon geht (diese und jene Bücher sollen gelesen werden), dann ziehe ich meinen Einwurf zurück. 🙂

  5. Aber das ist ja gerade das Begriffsproblem! Der Kanon ist nicht das Curriculum (selbst das schreibt keine zu lesenden Werke vor!) und er wird nicht diktiert, sondern gesellschaftlich gebildet. So zumindest meine Sicht auf den Kanon. Er existiert nicht plastisch – das Bildungsministerium führt ja keine Liste über den Kanon – sondern alleine im Bewusstsein der Menschen einer Gesellschaft.

    Die Auswahl des Zentralabiturs greift natürlich auf den Kanon zurück (und verstärkt ihn dadurch – das ist ein dialektischer Prozess), aber die Auswahl ist nicht der Kanon.

  6. Ich vermute, wir befinden uns gerade mittendrin in einem ebenso langsamen wie schwierigen „Kanon“-Wechsel. Der etablierte Bildungs-Kanon passt in großen Teilen nicht mehr zu der sich verändernden Gesellschaft. Es kommt, wie du schreibst, zu einem Austausch, der kann auch mit einer Perspektivverschiebung z.B. von Inhalten zu Kompetenzen einhergehen. Darauf scheint es zur Zeit ja hinauszulaufen, aber es wäre wiederum in einem komplexen und langen gesellschaftlich-politischen Aushandlungsprozess definierter (Kompetenz-) Kanon.
    Neben den negativen Aspekten eines „Kanons“ an und für sich, die in den Netzdebatten im Vordergrund stehen, würde ich gerne noch ergänzen, dass ein „Kanon“ dazu dienen kann, vielleicht sogar dazu dienen sollte, über eine gemeinsame, geteilte Grundlage Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Probleme entstehen dann, wenn das Kanonisierte (und damit ziemlich Festgekloppfte) dies nicht mehr oder nicht mehr in ausreichendem Umfang leistet.

  7. Um das noch zu den beiden Kommentaren zu ergänzen, die erschienen sind, während ich meinen geschrieben habe: Es ist absolut notwendig, einen gesellschaftlichen Bildungskanon und den schulischen (auch den gibt es) auseinanderzuhalten. Die Vorstellung, dass der schulische Kanon eine Auswahl des gesellschaftlichen darstellt, ist vermutlich zutreffend. Wenn dies so ist, wovon ich ausgehen, dann ist die schulische Debatte (hin zu Bildungsstandards und Kompetenz) eine Reaktion auf veränderte Sichtweisen und Anforderungen in der Gesellschaft.
    Ganz fest, war der Bildungskanon nie, sondern hat sich mit den historischen Veränderungen gewandelt (z.B. im Wechsel zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik usw.) Im Unterschied zu heute ging es da jedoch immer nur um das Austauschen einzelnern Autoren, Werke, Ereignissen und Jahreszahlen (jetzt mal beispielhaft für Deutsch und Geschichte). Auch hier wurde zwischen verschiedenen Gruppen sehr intensiv um Inhalte gerungen, was sich jeweils an einige Autoren oder Epochen und deren Stellenwert in den Lehrplänen, die sehr lange Abbild eines bürgerlichen Bildungskanons waren, nachvollziehen lässt. Der heutige Wandel ist hingegen viel grundlegender, da er nicht auf den Austauch von Inhalten fokussiert, sondern auf ein grundlegend anderes Verständnis von Bildung. Und an dieser Grenzlinie zwischem herkömmlichem versus neuem Verständnis von Bildung läuft die Diskussionslinien in der Schule, wobei gesellschaftlich bereits im Gegensatz zu einer Satz vor 20 oder 30 Jahren niemand mehr schief angeschaut wird, der in der Schule Goethe nicht gelesen hat, was wiederum darauf verweist, dass der Zusammenhang zwischen schulischem Lernen und Bildungskanon vor allem eine Sache des Gymnasiums ist und an anderen Schulformen schon längst keine Rolle spielt oder noch nie gespielt hat.

    • Ein interessanter Punkt, besonders der letzte. Das würde ja wieder in Richtung „Kanon des Bildungsbürgertums“ tendieren, mit dem Gymnasium als „Aufstiegsanstalt“ ins selbige bzw. zum Statuserhalt. Aus einem Gymnasium kommt allerdings auch heute noch kaum ein Schüler, ohne Goethe gelesen zu haben – wenn man Goethe jetzt nicht alleine mit dem „Faust“ verknüpft.

      Und wo wir gerade beim Faust sind: Spannend ist natürlich auch zu beobachten, welche Inhalte über lange Zeiträume hin als kanonisch gelten.

    • Eine ganz persönliche Anmerkung dazu: Wir haben damals (vor so ca. 17 Jahren) Goethe nicht in der Schule gelesen. Unsere Deutsch-Lehrerin wollte mal etwas anderes probieren und hat uns gefragt, ob das ok wäre, statt Faust von Goethe die Blechtrommel von Grass zu lesen. Uns Schülern war das ziemlich egal. Aber nach der Schule hatte ich als Student (aber da bewegte ich mich ja auch in einem ganz bestimmten Bildungsmilieu) das Gefühl, dass mir da etwas fehlte.

    • Ähnliches habe ich auch schon in einem 11er-Kurs beobachtet: Die SuS „beschwerten“ sich nach Ende der Jahrgangsstufe, dass sie nichts von Schiller oder Goethe gelesen hätten. Da existieren (in bestimmten Millieus) bestimmte Erwartungshaltungen. Ob die alleine dazu berechtigen, bestimmte Inhalte als kanonisch zu erhalten, ist eine interessante Frage.

  8. Okay, ich verstehe jetzt besser eure Sichtweisen. Ich denke mir dazu folgendes:
    * Wenn es keinen vom Bildungsministerium niedergeschriebenen Kanon gibt, super.
    * Okay, dann bleibt der gesellschaftliche Kanon, der irgendwie durch die Gegend wabert und sich dabei mehr oder weniger langsam verändert. Die Frage ist: Welche Relevanz sollte der für mich als Lehrer haben?
    Gewagte These: Gar keine. Ich muss mich doch als Lehrer nicht fragen, ob ich den Werther durchnehmen soll oder nicht. Diese Frage ist falsch herum. Ich muss mir überlegen, welche Haltungen, Einstellungen, Werte, Kompetenzen, … ich vermitteln will, und die zweite Frage ist, welche Literatur sich dazu eignet. Wenn ich zu dem Schluss komme, dass Werther ein super Buch ist, um einiges davon anzuregen, dann ist das doch eine gute Entscheidung, und zwar völlig unabhängig davon, ob der nun zum gesellschaftlich geteilten Kanon gehört oder nicht. „Irgendwas von Goethe“ gelesen zu haben hat noch keinen Bildungswert. „sich durch Werke von Goethe weitergebildet“ zu haben hat den gleichen Wert wie „sich durch Werke von XYZ weitergebildet“ zu haben, wenn „hinten dabei das gleiche rauskommt“. Der gesellschaftlich geteilte Kanon kann und sollte einem als Lehrer höchstens Anregungen geben, welche Werke mögliche geeignete Kandidaten sind. Eine „Liste von Büchern“, die man „gelesen haben muss“, kommt mir irgendwie schräg vor.

    Insofern: Völlig egal, ob es einen Kanon gibt, wer in definiert und aus was er besteht: Für die curriculare Frage sollte er niemals Ausgangspunkt sein, sondern höchstens zusätzliche Informationsquelle. Und idealerweise ergibt er sich als Produkt der Einzelentscheidungen aller Lehrerinnen und Lehrer in dem oben beschriebenen Sinne.

  9. Ergänzend: Zentrale Prüfungen setzen (wenn ich das als Nichtgermanist richtig sehe) aber bestimmte Werke voraus – insofern gibts doch einen curricularen Kanon oder zumindest einen, der durch die zentralen Prüfungen festgelegt wird, oder? Und das halte ich – ergänzend zu meinem Beitrag von eben – genauso für Schwachfug.

    • Nein, tut es nicht. Aufgabenstellungen in Deutsch könnten ja lauten: Untersuche folgenden Dramenausschnitt mit den richtigen interpretatorischen Werkzeugen und vergleiche es mit einem Drama, welches du kennst.
      Weiterhin: zentrale Prüfungen in Deutsch müssen sich ja nicht auf Literatur beschränken. Die Inhalte des DU sind ja breit gestreut. Man reduziert dies nur leider in Prüfungen auf den bildungsburgerlichen Kanon der Literaturgeschichte.

      Allerdings glaube ich auch nicht, dass @ Rya „die Schüler sich selbst aussuchen können, welches Drama ihnen gefällt“, denn meiner Meinung nach wird man doch erst fähig. Geschmack zu entwickeln, wenn man Vergleichsmoglickiten hat.

      Insofern macht ein Kanon Sinn, wenn er wegweisenden Xharakter hat, nicht aber juristischen.

    • Du schreibst „Aufgabenstellungen könnten ja lauten…“ – ja, genau. Aber wie lauten sie denn? Setzt das Zentralabi nicht zumindest in manchen Bundesländern voraus, dass bestimmte Werke gelesen werden? (Das ist keine rhetorische, sondern eine ernst gemeinte Frage: Wie ist es denn?)

    • Wie Herr Rau unten sagt, in Bayern gibt es sowas nicht, wenngleich wohl eher auf unterschwellige Art eben doch, beide Auswahl aus einer Art Schattenkanon. Und die Aufgabenstellungen sind eher so, wie ich formuliert habe. Heißt: Analysevorhandener Texte in Bezug auf Texte derselben Art oder Epoche.
      An der Realschule geht Es bei den Abschlussprùfungen dabei weniger um Inhalte denn um Aufsatzformen.
      Andere Bundesländer ließen sich recherchieren.

      Ich denke, man kann den Kanonbegriff auch noch erweitern. oben klingt er mir zu technokratisch, als wenn es eine Institution gibt, die den Kanon bestimmt. Dies tut er zum Teil ja auch, aber eben nur zum Teil. Da ein Kanon, meiner Meinung nach, auch Sinnstiftung für eine Gesellschaft ist und in diesem Sinn auch für den Zusammenhalt wichtig, dürfte er kaum “ einfach abzuschaffen sein“. Er ist ja, so wie die Inhalte von Volksmärchen, Teil der (bürgerlichen) Kultur.

    • In NRW werden fürs Zentralabitur bestimmte Werke in einem Abiturjahrgang vorausgesetzt. Für meine Abiturienten sind die „Woyzeck“, „Iphigenie“, „Tauben im Gras“, „Mario und der Zauberer“ sowie die „Traumnovelle“. Zusätzlich Liebeslyrik in Romantik und Gegenwart und diverses zum Spracherwerb und Sprachentwicklung, da wird konkret nur Herder als gemeinsamer Bezugstext genannt. (Die Vorgaben findet man hier.)

      Im Abitur selber wird aber nicht zwingend das jeweilige Werk abgefragt bzw. bearbeitet, sondern es können z.B. thematisch oder strukturell ähnliche Texte verwendet werden, wobei es dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten gilt.

  10. Sehr interessanter Blogbeitrag!

    In allgemeindidaktischen oder (mir näherliegend) geschichtsdidaktischen Diskussionszusammenhängen wird die Frage, was Schüler wissen sollen, der Kanon-Begriff, also ein festgelegter Rahmen von Sach-/Faktenwissen meist negativ belegt (Bsp. Wörterbuch der Geschichtsdidaktik). [Übrigens nicht minder häufig fehlendes Faktenwissen beklagt]. Dabei wird oft eine Dichotomie hergestellt: Kanon = deklaratives Wissen = instruktives Lernen [= schlecht] / [gut =] prozeduales Wissen = konstruktivistischer Lernbegriff = div. Kompetenzen. Historische Sachkompetenz wird in solchen Überlegungen Mittel zum Zweck. Daniel Bernsen hat ja neulich in seinem Blog kritisiert, dass historisches Wissen oder ein Geschichtskanon auf der einen und Kompetenzen auf der anderen Seite häufig gegeneinander ausgespielt werden. [http://geschichtsunterricht.wordpress.com/2011/11/18/inhalte-versus-kompetenzen/] An diese Kritik lassen sich Fragen anknüpfen: Auf lerntheoretischer Ebene: Kann man – wie oft suggeriert – in einem Rahmen vorgegebener Inhalte nur instruktiv lernen und sich deklaratives Wissen aneignen? Auf geschichtsdidaktischer Ebene: Bieten ein Kanon, die Auswahl oder die Benennung von Geschichtsdaten oder der Vergleich von Zeittafeln (z.B. früherer und heutiger) nicht einen hervorragenden Anlass zur Dekonstruktion und wären somit sehr spannend für den Geschichtsunterricht. Muss jetzt los und es für heute bei den Fragen belassen 😉

    PS: Habe 2006 mit dem „Wissenskanon Geschichte“ / ab November 2006 „Zeittafel Geschichte“ hierzu interessante Diskussion geführt; Zeittafel hier: http://www.segu-geschichte.de/index_htm_files/ZeittafelGeschichte.pdf – Bericht Vortrag von 2006: http://www.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/histsem1/geschichtsdidaktik/newsletter/materialien/news0703_nachlese.pdf – Eintrag bei LO: http://www.lehrer-online.de/zeittafel-geschichte.php

    • In meinem Fachseminar war sehr klar, dass es eine gute Balance zwischen beidem geben muss, so wie Daniel Bernsen das in seinem Blogbeitrag darstellt: Ohne Inhalte (ergo: Sachwissen) keine Kompetenzen und vice versa. Wer den historischen Kontext nicht kennt, kann ein Werk / eine Quelle / einen Sekundärtext nicht einordnen und beurteilen – und schon gar nicht eigenständig urteilen und bewerten.

  11. Hokey, mit deiner Definition von Kanon kann man arbeiten, mit der Ergänzung, in der Diskussion klargeworden, dass es sich dabei vor allem um Wissen handelt.

    In jedem Gesellschaftsausschnitt wird es immer kanonisierte Autoren geben, man denke nur an den Hl. Rousseau, St. Piaget oder St. McLuhan. Eine nützliche Fußnote: Kanon ist ein Buch dann, wenn man es nicht mehr gelesen haben muss, aber trotzdem darüber reden kann.

    Einen schulischen Kanon, der zu Prüfungszwecken dient, gibt es in Deutsch seit den späten 1960ern nicht mehr, auch nicht in Bayern. Ausnahme: Faust. Das Zentralabitur in Bayern prüft dezidiert keinen Kanon ab; es kommen bewusst und schon seit langem Texte, die den Schüler kaum bekannt sein dürften. Das funktioniert auch.

    Nichtsdestotrotz gibt es einen gesellschaftlichen und einen schulischen Kanon. Letzterer entsteht zum einen durch Gewohnheit: Krabat, Die Insel der blauen Delphine oder so furchtbares Zeug wie Rolltreppe abwärts. Zum anderen dadurch, dass immer wieder die gleichen Werke als repräsentativ für Epochen heangezogen werden: Nathan, Emilia Galotti, seltener Werther, Taugenichts, Sandmann.

    Einen Kanon wird es immer geben, mehr oder weniger ausgeprägt. Ein Kanon prägt eine Generation, für meine Schüler besteht der Kanon etwa aus den Fernsehserien und -sendungen, die sie alle kennen. How I Met Your Mother, Two and A Half Men, DSDS. Diese Generationen sind sehr kurz, drei Jahre später kennt man völlig anderes.

    Ich weiß noch, wie ich als Lehrer neu an die Schule kam, als einer von wenigen, die in diesem Jahr überhaupt eingestellt wurden, und als einziger Lehrer meiner Generation an der Schule. Da war keiner, der meine Filme und meine Bücher kannte. Wenn es keine Werke gibt, die Generationen verbindet, ist es ein kleines bisschen Verbindung weniger zwischen den Generationen.

    Wie gesagt, einen richtigen Kanon gibt es an der Schule gar nicht mal. Muss auch nicht sein, man könnte natürlich auch mal einen Aufsatz schreiben: Wozu und zu welchem Ende treibt man Literaturgeschichte? Man darf einen Kanon allerdings nicht aus den Gründen ablehnen, dass man alle Werke für gleichberechtigt hält und deren Qualität nur im Auge des Betrachters liegt. Diesen kulturellen Relativismus sollte man inzwischen überwunden haben.

    *Ein* Ziel von Bildung sollte sein, dass es mir Spaß macht, mit der gebildeten Person ein Bier zu trinken und mich zu unterhalten. Das ist eine etwas persönliche Definition, aber keine gar so schlechte. Da hilft es, wenn diese Person etwas hat, über das sie reden kann. Neulich habe ich mit einem Brasilianer über Europa gesprochen und die Reconquista. Das ging deshalb, weil wir beide ein gemeinsames Grundwissen hatten. Es geht aber auch ohne, zugegeben.

    • Richtig! Den Kanon gibt es nicht, bestenfalls eine Schnittmenge verschiedener Kanons. Und dienen diese Kanons als gesellschaftliche Bindemittel? Das würde sehr stark gegen eine Auflösung des Kanons sprechen bzw. würde andeuten, dass es eine Auflösung nicht geben kann, weil die Gesellschaft sich ihren Kanon permanent selbst geriert.

      „Krabat“ finde ich als Beispiel gerade sehr passend, weil ich es eventuell mit einer Klasse lesen will, da ich mich über die literarisch und thematisch schlechten Lektüren der Verlage so ärgere (btw: Mit „Rolltreppe abwärts“ bin ich auch gequält worden…).

      Bei deinem Kneipenabend bin ich skeptisch, denn ob ich mich nun beim Bier über die Reconquista unterhalte oder über die letzte Folge von Two and A Half Men – wer bestimmt, was gehaltvoller ist und Spaß macht beides. (Meine ich jetzt ernst, denn unsere Maßstäbe für „Bildung“ sind rein willkürliche – oder nicht? Ersteres verlangt natürlich mehr (kulturelles, historisches) Sachwissen, Kompetenzen; bei Letzterem mag eine Inhaltswiedergabe genügen. Ist das als Maßstab ausreichend? Hm… ist noch unausgegoren…)

       

    • „unsere Maßstäbe für „Bildung“ sind rein willkürliche – oder nicht?“
      Sind sie nicht. Nicht mal größtenteils. Aber das ist ein anderes Thema.

      Deswegen bin ich bei dem Beispiel auch von mir ausgegangen. Dass mich ein Gespräch über TAHM interessiert, ist unwahrscheinlich. Dazu kommt, dass TAHM in ein paar Jahren vergessen sein und keine gemeinsame Basis mehr darstellen wird.

  12. Der „Kanon“ impliziert, dass bestimmte Dinge gewusst/gekonnt/erfahren werden müssen, um an der Gesellschaft teilzunehmen.

    Das stimmt insoweit ja auch, dass bestimmte Kompetenzen im Umgang mit Kommunikationsmitteln, Geld, Verkehr etc unabdingbar sind. Hier wirkt der Kanon auf die Curricula – auch wenn der Kanon, wie oben beschrieben, natürlich nicht niedergeschrieben ist.

    Für die Schule stellt sich beim Umgang mit dem Kanon die Frage:
    Wo liegt aber die „Grenze“ von „notwendig zum Überleben“ und „wäre schön, um als Bildungsbürger zu gelten“? Zu Christians Mathe-Beispiel: Die vier Grundrechenarten könnte man als „notwendig“ ansehen – vieles, vielleicht alles, was danach kommt als „wäre schön“.

    Wenn man dies durch die verschiedenen Fachdisiziplinen durchgeht, würden wir wahrscheinlich sagen, dass es in jedem Fach ein paar Basics gibt – und dann ganz viel „wäre schön“. Das ist ja an sich auch kein Problem, wenn es nicht die Lernenden davon abhalten würde, in „ihr Element“ zu finden. Muss ich mich wirklich mit der Kurvendiskussion beschäftigen, wenn ich lieber Geige spielen möchte? Brauche ich eine zweite oder dritte Fremdsprache, wenn ich ganz in der Genetik aufgehen kann? Ist die Beschäftigung mit dem 30-jährige Krieg sinnvoll, wenn meine Gedanken doch eher beim Barren hängen?

    Hier vermengen sich jetzt einige Fragen und Linien:
    1. Kanon und Curriculum, weil die Schule ihre Curricula eben nicht in den luftleeren Raum setzt.
    2. Welchen Stellenwert hat die Allgemeinbildung, wenn wir die Schule bisher dafür genutzt haben, eine verbindliche allgemeine Bildung einzuführen, die jedem Menschen die Chance gibt, in gleicher Weise an den Gestaltungsprozessen zu partizipieren.
    3. Was geschieht mit den Zertifikaten, wenn wir bisher die Schule genutzt haben, je nach erreichter Qualifikation bei der Erarbeitung der „Allgemeinbildung“ eine Zertifikat zu vergeben – für die mächtigeren Positionen in der Gesellschaft.

    Schöne Weihnachten,

    Felix

  13. Pingback: Muss man eigentlich nix mehr wissen? | cspannagel, dunkelmunkel & friends

Schreibe einen Kommentar zu Daniel Bernsen Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert