Teil 5: Pro Noten

Bild:Tafel Was lange währt, wird endlich gut. In dieser Folge spreche ich mit Hilfe des Herrn Oelkers (pdf) einmal ein Statement pro Noten. Wieso hält sich die herkömmliche Notengebung so hartnäckig, wo doch ihre Anfälligkeit für Fehler so lange bekannt ist?

Die Erkenntnisse des Notenkritikers Karl-Heinz Ingenkamp wurden Anfang der siebziger Jahre gewonnen. Heute – 35 Jahre später – hat sich in der Praxis nicht viel geändert. Noten werden heute nicht anders als damals vergeben, mit allen subjektiven Fehlerquellen, die in den letzten Folgen aufgezeigt wurden. Auch wenn sich die Wissenschaft durchaus Gedanken um eine fairere und genauere Diagnostik gemacht hat, scheint davon in der Praxis nicht viel übrig zu bleiben. Worin mag der Grund dafür liegen?

Jürgen Oelkers hat eine Antwort parat: „Noten sind einfache Instrumente, deren Aufwand begrenzt ist und die leicht kommuniziert werden können“.[1] Das Argument ist schlagend. Wenn einzelne Lehrer unter Umständen bis zu 200 Schüler unterrichten, ist es leicht nachvollziehbar, dass diese Lehrer sich schwer tun, jeden Einzelnen gerecht, angemessen und objektiv zu bewerten.

Noten sind im Vergleich zu beispielsweise ausformulierten Bewertungen, wie mancher sie vielleicht aus der Grundschule kennt, schneller und einfacher zu vergeben. Gleichzeitig können sie unkompliziert kommuniziert werden. Denn Noten sind über Generationen etablierte Größen unserer Schulkultur, und Oelkers weist darauf hin, dass Schüler sogar erwarten, dass man ihnen Noten gibt.

Darüber hinaus widerspricht er der Auffassung, Noten seien aufgrund ihrer Subjektivität wenig aussagekräftig, sondern ist der Meinung, „Lehrkräfte beurteilen zutreffend, was sie beurteilen können, nämlich die Leistung der Klasse, die sie unterrichten.“[2] D.h. auch wenn Lehrer beim individuellen Schüler daneben liegen können, so ordnen sie ihre Schüler in Bezug auf die gesamte Klasse treffend ein.

Das in meinen Augen treffendste Argument Oelkers‘ ist jedoch das der Arbeitszeit. Dazu einige Erkenntnisse, die in der deutschsprachigen Schweiz gewonnen wurden:

  • Lehrkräfte unterschätzen ihre Arbeitszeit eher als dass sie diese überschätzen

  • Alle Wochentage sind belastet

  • Die durchschnittliche Arbeitszeit liegt höher als im öffentlichen Dienst verlangt

  • Die Jahresarbeitszeit konzentriert sich auf Unterrichten, Vor- und Nachbereitung, sowie Planung und Auswertung

  • Für Betreuung und Beratung stehen nur 3% der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit zur Verfügung

Damit ist sogar mehr als die geforderte Zeit ausgefüllt. Würde man jetzt das Notensystem ändern – also neue Methoden der Leistungsbeurteilung einführen – würde dies die Arbeitszeit der Lehrer sprengen. Oelkes nüchterner Schluss: „Alles, was den Aufwand steigert, ohne den Ertrag zu verbessern, wird in der Praxis keine Verwendung finden.“[3]

Auch wenn die Schweizer Erkenntnisse unter Umständen nicht 1:1 auf die deutschen Verhältnisse übertragbar sein sollten, so bleibt dieser Folgerung dennoch nichts hinzuzufügen. Denn sie ist unschwer nachzuvollziehen, sollten die alternativen Beurteilungsmethoden tatsächlich die strapazierten Kapazitäten der Lehrer zusätzlich belasten.

Doch auch Oelkers übt Kritik an der gängigen Notenpraxis. Noten würden zumeist dem Lehrstoff einer bestimmten Lehrkraft angepasst und seien daher kaum auf andere Lehrkräfte und -Stoffe übertragbar. Oelkers fordert deshalb, „Inhalte anzupassen und Aufgaben vergleichbar zu bestimmen“ und die „Anforderungen an die Schüler ab[zu]stimmen, die dann individuell ihren eigenen Lernaufwand, von dem der Lernerfolg maßgeblich abhängig ist, abklären und einteilen können“. [4]

Eine vernünftige Forderung. Meist wissen Schüler gar nicht, was die Ziele des Unterrichts sind, wissen nicht, welche Maßstäbe der Lehrer einfordert und können ihr Lernen folglich auch nicht entsprechend ausrichten. Die Note und damit auch die erwartete Leistung soll also ausdrücklich keine Black Box sein, dem Schüler eben nicht vorkommen wie das Ergebnis einer lockeren Würfelrunde. Das schafft der Lehrer aber nur mit Transparenz, indem er klar sagt, was er erwartet.

Es gäbe noch eine Menge zum Oelkers-Vortrag zu sagen, sowohl interessante Ergebnisse als auch Kritik anzumelden, doch das würde den knappen Rahmen eines Blogbeitrags sprengen. Wen es interessiert, der kann ja nachlesen und/oder die Diskussion in den Kommentaren weiterführen. Für diese Folge halte ich als Oelkers‘ Kernthese fest, dass er die Note das pragmatischste und bewährteste aller hiesigen Beurteilungsinstrumente einschätzt. Welche alternativen Möglichkeiten sich vielleicht dennoch Lehrern bieten, möchte ich in der vorletzten Folge erörtern, um dann abschließend ein abwägendes Fazit zu ziehen.

Bisher:
Teil 1 – Würfeln Lehrer doch?
Teil 2 – Funktionen der Notengebung
Teil 3 – Gütekriterien und so…
Teil 4 – Auch Lehrer machen Fehler.
Teil 5 – Pro Noten

[1] Oelkers, Jürgen: Leistungen und Noten: Probleme der Schülerbeurteilung, S.6. (Vortrag anlässlich der Fortbildungstagung des Gymnasiums Hofwil im coop-Zentrum Muttenz am 11.Februar 2002.)
[2] ebd. S.7
[3] ebd. S.12
[4] ebd. S.14

Teil 4: Auch Lehrer machen Fehler.

Tafel

Wer zum ersten Mal über Lehrerfehler stolpert, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nahezu alle Vorurteile über den Notenwürfel scheinen wahr zu werden…

Unser guter Herr Lehmann aus der letzten Folge hätte es vor Gericht wahrlich schwer. Denn viele der Fehler, die man ihm da vorwerfen könnte, werden als unbewusste Fehler attestiert, also als Fehler, auf die er direkt gar nicht oder nur schwer Einfluss nehmen kann.

Die folgend aufgeführten Lehrerfehler lassen sich bei Jürgens nachschlagen.[1] (Bitte nicht die Fußnoten klicken! Da liegt irgendwas im Argen…)Ich zähle einmal einige auf:

Da hätten wir zunächst den Halo-Effekt, dessen urteilsverfälschende Wirkung darin besteht, dass ein allgemeiner Eindruck die Wahrnehmung einzelner Merkmale bestimmt. Sie sind Lehrer, wählen CDU und haben „Zecken“ schon immer gehasst? Dann sollte die junge Dame mit dem pinkfarbenen Irokesenschnitt vielleicht besser die Klasse wechseln. Aber es geht auch subtiler. Es „besteht z.B. die Gefahr, dass Schüler die durch ihr Auftreten, ihre Kleidung, ihr Sprachverhalten usw. einen unordentlichen Eindruck machen, schlechtere Beurteilungen auf Leistung erhalten, als sie eigentlich verdienen.“[2] Vielleicht liegen manche Schüler also gar nicht so falsch mit ihrer Annahme, Lehrer(in) XYZ könne Jungs/Mädels per se nicht leiden.

Ähnlich gelagert ist der logische Fehler. So sind Lehrer bspw. oft des Glaubens, gute Matheschüler seien gleichfalls auch gute Physikschüler. Aus dem Vorliegen eines Merkmals wird gleichzeitig fälschlicherweise auf ein anderes geschlossen. Und umgekehrt.

Beharrlichkeitstendenz nennt die Pädagogik das, was Schüler gemeinhin „Abo“ nennen. Trotz einer Leistungsverbesserung schafft der Schüler einfach nicht den Sprung von seiner „Standardnote“. Ein einmal gefälltes Urteil prägt die Erwartungshaltung des Lehrers, der dann dazu neigt, dieses Urteil beizubehalten.

Auch für Laien gut nachvollziehbar sind Erwartungseffekte. Hand aufs Herz: Fünf Aufsätze in Folge mit „Sehr gut“ zu bewerten, wer macht das schon? Gleichzeitig werden mittelmäßige Arbeiten, die nach einer solchen Reihe sehr guter Arbeiten korrigiert werden, tendenziell schlechter bewertet als sie es verdient hätten, was man Kontrasteffekt nennt. So kann die Note einer Arbeit mit davon abhängen, in welchem Kontext sie korrigiert wurde. Fatal für Schüler, deren Arbeiten oft nach einer Reihe sehr guter Arbeiten korrigiert werden. Manchmal ist das Alphabet auch keine Hilfe…

Noch drastischer lesen sich die Erkenntnisse zum Pygmalion-Effekt. Folgt man diesem, so beeinflussen Lehrer mit ihren Erwartungen unter bestimmten Umständen(!) das Schülerverhalten. Und zwar so, dass die Schüler das vom Lehrer erwartete Verhalten erfüllen, im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung. So kann es sein, dass Lehrer Schüler, bei denen sie eine höhere Leistungserwartung haben, häufiger aufrufen, loben und häufiger Hilfestellung bei falschen Antworten bieten. Jürgen Oelkers, ein Notenbefürworter, schreibt dazu: „Lehrerinnen und Lehrer beziehen sich in ihrem Unterricht mehr auf die guten Schüler, sie lassen gute wie schlechte Schüler direkt oder häufiger indirekt wissen, was sie von ihrer Leistungsfähigkeit und oft damit verknüpft von ihrer Person halten, und das Selbstbild der Schüler passt sich tendenziell dem Bild an, das die Lehrer von ihnen haben und mitteilen.“[3]

Doch auch implizite Persönlichkeitsurteile können eine Rolle spielen. Die Projektion von eigenen Wünschen, Zielen und Vorstellungen auf Schüler können sich ebenso auf die Benotung auswirken, wie persönliche Werthaltungen oder Einstellungen.

Darüber hinaus gibt es noch allgemeinere Beurteilungstendenzen: Einige Lehrer tendieren bei ihrer Bewertung eher zur Mitte, andere zur Strenge. Einige wissen um die Folgen für ihre Schützlinge und neigen dann eher zu milderen Beurteilungen als angebracht.

Es ist leicht nachvollziehbar, wie sehr solche Erkenntnisse die Notengebung in Frage stellen. Dabei sollte man sich nicht die Illusion machen, von solchen Fehlern frei zu sein oder mit dem Wissen darum, diese vermeiden zu können. Die meisten Fehler spielen sich auf unbewusster Ebene ab, so dass es nicht gerade ein einfaches Unterfangen sein würde, sie auszuklammern, auch wenn es Überlegungen dazu gibt, auf die ich in einer späteren Folge kommen möchte. Allerdings versteht man unter diesen Voraussetzungen Ingenkamp, den ich hier schon einmal zitiert habe:

„Lehrer sollten wissen, dass der Messfehler unseres Zensurensystems im allgemeinen +- einer Zensurstufe angenommen werden muss, dass also Schwankungen zwischen den Zensuren 2 und 4 allein durch die mangelnde Zuverlässigkeit dieses Beurteilungsverfahrens verursacht werden können.“[4]

Das liest sich wie ein totales Zensurendesaster, aber keine Bange, in der nächsten Folge haue ich auch mal in die Kerbe pro Notengebung. 😉 Wer möchte, kann ja den zitierten Oelkers-Aufsatz (pdf) schon eimal lesen.

Bisher:
Teil 1 – Würfeln Lehrer doch?
Teil 2 – Funktionen der Notengebung
Teil 3 – Gütekriterien und so…
Teil 4 – Auch Lehrer machen Fehler.
Teil 5 – Pro Noten


[1] Jürgens, E.: Leistung und Beurteilung in der Schule, Sankt Augustin 2000.[2] Sacher, W.: Prüfen. beurteilen. Benoten. Bad Heilbrunn 1994, S.43. Zitiert nach Jürgens.[3] Oelkers, J.: Leistungen und Noten: Probleme der Schülerbeurteilung. (PDF)

[4] Ingenkamp, Karlheinz: Lehrbuch der pädagogischen Diagnostik, Weinheim 1988, S.40.

Teil 3: Gütekriterien und so…

Tafel

Der geplagte Herr Lehmann sitzt vor seinem Richter und überlegt, wie er diesen überzeugen kann, dass die Zensuren der kleinen klagewilligen Göre aus der 10c korrekt zustandegekommen sind.

Wärst du doch mal bei deinen Biergläsern geblieben, denkt er sich. Ab und an `nen Spinner vor die Tür setzten ist okay, aber direkt vor Gericht, das hätte es bei Erwin nicht gegeben. Hättest Du doch mal auf Karl gehört, dass Lehrer Mist ist, hadert er. Scheiße ist das als Lehrer. Wie war das noch mal mit den drei Gütekriterien?

Die könnten ihn jetzt vielleicht raushauen, glaubt er. Wenn er die belegt, kann ihm hier keiner gar nix. Dann wären seine Noten wasserdicht. Also ganz langsam, Herr Lehman, beruhigt er sich, fangen wir mal vorne an.

Die drei Gütekriterien und Herr Lehmann
Da wäre als erstes die Objektivität, ruft er sich ins Gedächtnis. Ingenkamp hat gesagt, „eine Messung ist dann objektiv, wenn intersubjektive Einflüsse der Untersuchung möglichst ausgeschaltet werden.“[1] Herr Lehmann glaubt, das habe er ganz gut hinbekommen. Er ist immer objektiv, findet er. Nicht so wie sein Kollege, der schon dabei ertappt wurde, dieselbe Arbeit unterschiedlich zu bewerten. Lehmann muss schmunzeln. So ein Trottel.

Ohne Objektivität gibt es keine Reliabilität, weiß Lehmann, denn das bedeutet, dass seine Note auf verlässlicher Basis zustandegekommen ist. „Unter Zuverlässigkeit (…) einer Messung versteht man den Grad der Sicherheit oder Genauigkeit, mit dem ein bestimmtes Merkmal gemessen werden kann.“[2] Ich bin ja nicht doof, meint er, eine Textinterpretation prüfe ich nicht per Lückentext. Das mache ich schon alles richtig.

Validität ist das wichtigste Gütekriterium, ruft sich Herr Lehmann in Erinnerung. „Die Gültigkeit oder Validität eines Verfahrens sagt aus, ob tatsächlich das gemessen wird, was man messen will und nicht irgend etwas anderes.“[3] Tja, denkt Herr Lehmann, den Lehrplan erfülle ich im Groben doch ganz gut. Und seine Noten geben in etwa auch wieder, was man in Zukunft von den jungen Leuten erwarten kann. Klar messe ich immer, was ich messen will.

Etwas beruhigter lehnt sich Herr Lehmann in seinem Stuhl zurück und lächelt den Richter an. Jetzt fühlt er sich etwas sicherer. Diese drei testtheoretischen Gütekriterien gelten schließlich auch in den Sozialwissenschaften. Da kann ihm keiner ans Bein pinkeln.
Wasserdicht?
„Soso“, meint der Rechtsanwalt der kleinen Göre später mit übertrieben hochgezogener Augenbraue, wie Herr Lehmann findet, „Objektiv ist ihre Notengebung also? Zuverlässig und valide? Das werden wir noch sehen…“

Und zwar in der nächsten Folge. Stichwort: Lehrerfehler.

Bisher:
Teil 1 – Würfeln Lehrer doch?
Teil 2 – Funktionen der Notengebung
Teil 3 – Gütekriterien und so…
Teil 4 – Auch Lehrer machen Fehler.
Teil 5 – Pro Noten


[1] Ingenkamp, K.-H.: Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik, Weinheim 1985, S.34.
[2] ebd. S.38.
[3] ebd. S.40.

Teil 2: Funktionen der Notengebung

Tafel

Erfolgreiches Lernen ist zunächst einmal gar nicht von Noten abhängig, wie alle Menschen wissen, die irgendwann einmal Sprechen oder möglicherweise schon vor der Schule Lesen gelernt haben. Wozu also Noten? Welcher Sinn verbirgt sich hinter der Notengebung? Welchen Zweck, welche Funktion erfüllt sie?

Gesellschaftliche Klassifikation

Wirft man einen Blick in die Fachliteratur, überkommt einen zunächst einmal große Verwirrung. Denn auch die Wissenschaftler wissen nicht so recht, welche Funktionen sie der Zensur denn nun zuschlagen sollen; ich gebe hier mal einen Vorschlag aus dem bunten Strauß an Vorschlägen wieder[1]:

  • Rückmeldefunktion (und zwar je für Lehrer und Schüler)
  • Berichtsfunktion (für Mama und Papa)
  • Anreizfunktion (gute Noten als Anreiz für gute Leistung)
  • Disziplinierungsfunktion (Fragen Sie mal die Frau Schavan)
  • Sozialisierungsfunktion (Schüler lernen unterschiedliche Leistungsnormen kennen.)
  • Klassifizierungsfunktion (Grundlage für Förderung und Selektion)
  • Selektionsfunktion (die Guten ins Kröpfchen…)
  • Zuteilungsfunktion (Harzt-IV vs. Numerus Clausus)
  • Chancenausgleichsfunktion (besonders benachteiligte Schüler erhalten bessere Noten als die objektive Leistung rechtfertigen würde)

Das ist ein Batzen Funktionen, den eine handvoll Ziffern erledigen soll, aber sie sind durchaus nachvollziehbar. Wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass Noten nur zweitranging der Entwicklung des einzelnen Schülers, aber zu großen Teilen administrativen Zwecken dienen. Sie sind also im Kern kein Instrument zur individuellen Verbesserung des Lernerfolgs, sondern dienen, was auch historisch begründbar ist, der Auslese, der positiven wie negativen Disziplinierung und bestimmen mehr oder weniger über die Berechtigung für den gesellschaftlichen Auf- oder Abstieg.

Der größte Profiteur von Noten ist also die Gesellschaft mit ihren zahlreichen Institutionen, weil die Zensur es ihr leichter macht, Entscheidungen zu treffen. Nicht umsonst rieb sich der IHK-Präsident in einer Fernsehdiskussion (Hart aber fair) die Hände, weil er sich erhofft, dass Kopfnoten ihm und seinen Kollegen schon bei der schriftlichen Bewerbung Auskunft über die Sozialkompetenz seiner Azubis in spe geben. Man muss diese Leute dann nicht mehr persönlich kennen lernen, sondern kann die mutmaßlich Ungeeignetsten direkt vom Schreibtisch aus in den Müllkorb befördern – die Schule hat ja schon vorsortiert. Gleiches gilt für Numerus Clausus-Fächer, bestimmte Ausbildungsberufe oder simpel dem Zugang zur Sekundarschule. Aber wo bleibt dabei die pädagogische Funktion von Noten?

Diagnose beim „Lernarzt“

Was meint überhaupt „pädagogische Funktion“? Ich verkürze das Thema hier stark, aber im Prinzip ist es ganz einfach: Inwiefern nützt, hilft oder unterstützt Notengebung das Kind / den Schüler in seinem persönlichen Lern- und Entwicklungsprozess? Ganz klar, und das wusste auch jeder in der Talk-Runde von Hart aber Fair, die den Ausschlag für diese Reihe gegeben hat: Besonders die Rückmeldefunktion ist die, die dem Schüler, dem Lehrer und den Eltern mitteilt, wo dieser steht, welche Leistungen gut und welche ausbaufähig sind. Daran anschließend muss gemeinsam mit dem Lehrer, wenn nötig, die Frage beantwortet werden, wie eine Leistungsverbesserung ganz konkret gelingen kann.

Der Lehrer sollte sich diesbezüglich vielleicht als „Lernarzt“ verstehen, der eine Diagnose stellt, einen Befund ableitet und daraus individuelle Schlüsse für das weitere Vorgehen seines Schülers zieht. Eigentlich logisch, oder? Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen beim Hausarzt und der verpasst Ihnen einen Hustensaft, obwohl sie sich eigentlich den Knöchel verstaucht haben, mit der Begründung, die meisten Leute kämen auch sehr gut mit Hustensaft zurecht.

Aber Hand aufs Herz: Hat das jemand in seiner Schulzeit so erlebt? Hat schon eimal jemand einen Schüler sagen hören: „Himmel, schon wieder `ne Fünf, jetzt steht demnächst `ne Lernberatung an, Herr Xyz will mir zeigen, wie ich weiterkommen kann.“? Kennen Sie das? Ich nicht. Aber wie oft hört und liest man zum Schuljahresende vom Notendruck, von verheulten Kindern und vom schiefen Segen in zahlreichen Haushalten, was davon herrührt, dass alle Teilnehmer dieses Systems genau wissen, welche speziell biografischen Konsequenzen schlechte Noten nach sich ziehen können. Noten werden kaum als Hilfsmittel zur Diagnostik und zur Verbesserung des individuellen Lernens herangezogen, sondern als Diktat der Biographie empfunden. Klar: grob gesehen weiß jeder, dass nach ein paar Fünfen Nachhilfe oder Hauptschule droht, aber was wäre gewesen, wenn man schon bei der ersten Fünf für klar Schiff gesorgt hätte?

Aber wieso klappt das nicht? Können Noten überhaupt Rückmeldung über Leistung geben? Sind sie ein dafür geeignetes Instrument? Und wenn nicht, sind Noten dann hinfällig? Die Diskussion dieser Themen wird die nächsten Beiträge beschäftigen.

Bisher:
Teil 1 – Würfeln Lehrer doch?
Teil 2 – Funktionen der Notengebung
Teil 3 – Gütekriterien und so…
Teil 4 – Auch Lehrer machen Fehler.
Teil 5 – Pro Noten


[1] Der Strauß stammt von Zielinski, 1975. Zitiert nach Eiko Jürgens: Leistung und Beurteilung in der Schule, Sankt Augustin 2000, S.55.

Teil 1: Würfeln Lehrer doch?

Bild:Tafel Notengebung

Unter Schülern kursieren tausend Theorien darüber, wie Lehrer an ihre Noten kommen. Ganz oben auf der Liste der Spekulationen findet man den berühmten Würfel, der das perfekte Instrument zu sein scheint, um Uneingweihten das Mysterium „Notengebung“ zu erklären.

Denn selbst im äußersten Fall, also nach dreizehn mühsamen Schuljahren plus zweimal Sitzenbleiben, hat ein Schüler keine Ahnung, wie die Lehrer seine Noten schlussendlich gefunden haben. Jeder weiß (bzw. hofft), dass der Würfel nur ein Scherz ist und alles mehr oder weniger geregelt abläuft, aber wie Lehrer das Thema Notengebung nun wirklich handhaben, bleibt den Meisten für immer verschlossen.

Wie funktioniert das nun? So PI mal Daumen? Mit Fingerspitzengefühl? Abhängig von der besten Arbeit einer Klasse? Erfahrungswerte des Lehrers? Kaffeesatz? Hat möglicherweise die Oberweite weiblicher Schülerinnen im Verhältnis zum Hüftumfang Einfluss auf die Zensur? Liegt es am Horoskop? Kann man Noten „abonnieren“? Oder ist der neue Irokesenschnitt Schuld an der Vier in Mathe?

Solche Spekulationen kennt jeder, der einmal Schüler war. Dementsprechend entwickeln Schüler Strategien, die ihre Chancen verbessern sollen. Brust raus, Bauch rein? Tasche vom Auto zum Lehrerzimmer tragen? (schon erlebt…) Reicht es nicht, sich drei Wochen vor Schuljahresende noch einmal feste mündlich reinzuhängen, um die Zwei noch zu bekommen? (Ich kann verraten: Es reicht. Drei Jahre lang praktisch erprobt.) Oder sind Lehrer genügsam und begnügen sich mit einem braven Lächeln aus der ersten Reihe?

Wie geben Lehrer Noten? Was verlangt die Theorie und was die Praxis? Sind die obigen Spekulationen nur das Garn, aus dem Schüler sich Erklärungen für ihre Zensuren zurechtstricken, oder ist da ein Funken Wahrheit dran? Solchen und ähnlichen Fragen möchte ich in der hiermit gestarteten Serie nachgehen. Jede Woche werde ich einen entsprechenden Artikel veröffentlichen und den jeweils aktuellen, gekennzeichnet durch das hübsche Bildchen, in der Seitenleiste „festpappen“.

Kritik und Kommentare sind wie immer erwünscht. Ich verweise hier noch einmal ausdrücklich darauf, dass mir praktische Erfahrungen diesbezüglich nahezu vollkommen fehlen, und sich die Erkenntnisse hauptsächlich aus der wissenschaftlichen Literatur speisen, die in den Texten angegeben wird. Für mich persönlich wird diese Reihe eine Art Bestandsaufnahme, wie meine Sicht auf dieses Thema vor Beginn meiner praktischen Arbeit aussieht, so dass ich in einiger Zeit vergleichen kann, wie die Dinge sich entwickelt haben. Für Dich, lieber Leser, mag diese Reihe ein Einblick in das Denken eines noch an seine Ideale glaubenden Lehramtsanwärters, oder auch einfach nur eine knappe Informationsquelle bezüglich des Komplexes Notengebung sein.

Viel Vergnügen!
Hokey

Bisher:
Teil 1 – Würfeln Lehrer doch?
Teil 2 – Funktionen der Notengebung
Teil 3 – Gütekriterien und so…
Teil 4 – Auch Lehrer machen Fehler.
Teil 5 – Pro Noten