Da standen wir nun in der lauen Bielefelder Nachtluft, die Menschen strömten durch die großen Türen des Stadttheaters an uns vorbei, hinter uns rauschten die Stadtbahnen. Meine Kollegin und ich waren’s zufrieden und hatten eine gute Vorstellung „Don Karlos“ hinter uns, wenn auch unerwartet modern, doch gerade das sollte unseren Schülern entgegengekommen sein. Oder?
Bestimmt waren es nicht die verzerrte Gitarrenklänge, zwischen einigen Aufzügen eingebracht, die mein gitarrenverliebtes Ohr als rückwärtsgespieltes Tapping erkannte, psychedelisch und verstörend, während sich die drehbare Bühne bewegte und dem Betrachter neue Räume eröffnete. Bestimmt nicht das „Blablabla“, das die Schauspieler mitunter lautstark einwarfen und so lange Dialoge abkürzten.
Vielleicht waren es die Kostüme. Ein Schüler beschrieb die Figuren als aus einem Mafia-Film der 50er-Jahre entsprungen. Unrecht hatte er da nicht. König Philip wirkte in seinem silbergrau glänzenden Anzug wie ein Wirtschaftsboss, vielleicht auch ein wenig wie ein Pate. Seine Schergen Alba und Domingo in ihren schwarzen Anzügen und mit Albas Pistolenholster wie brutale Mafiosi. Posa dagegen schien wie ein Stadtstreicher, wie ein abgerissener Halunke, ein Möchtegern-Punk, in seinem olivfarbenen Unterhemd, der wirren Frisur und dem Fell auf der Schulter.
Vielleicht war es die Körperlicheit der Inszensierung. Wenn Männer sich freundschaftlich und inniglich küssten, wenn Karlos ins Gemach der Eboli eindrang, mit dieser eng umschlungen unzüchtig auf den Boden stürzte; wenn der König seinen nicht mehr jungen Oberkörper entblößte oder wenn die Eboli von Alba und Domingo sexuell genötigt wurd.
Vielleicht waren es die, trotz Kürzungen, immer noch langen Dialoge, die Konzentration und Aufmerksamkeit verlangten, wollte man ihnen folgen. Vielleicht brauchte es dafür manchmal Sentenzen wie Ebolis „Ich habe deinen Mann gefickt“, um die Schüler von Zeit zu Zeit zu wecken und zu entsetzen.
Vielleicht war es auch einfach der Wunsch, den „echten“ Schiller zu sehen, in klassischen Kostümen, in ganzer Pracht, in kunstvoll gestelzter Sprache, dem hohen Ton; vielleicht der Wunsch, Theater zu sehen, das edel und rein ist, frei vom Staub und Schmutz des Alltags. Eine Phantasiewelt, die von untergegangenen Königreichen erzählt, irgendwann in einer fernen Vergangenheit, in der es wundervolle Kleider gab und in der wunderschöne feine Damen und Herren Intrigen spannen, um Freundschaft, Macht und Freiheit rangen.
Reichlich Applaus gab es trotzdem. Und wir haben Montag reichlich Diskussionsstoff. Auch wenn die Rückmeldungen bislang eher von Enttäuschung berichteten.
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