Werdet nicht Lehrer.

Ich erinnere mich an das Ende meines Referendariats. Mein Fachleiter empfahl mir, einen kleinen Vortrag vor den Lehramtsstudenten zu halten, die kurz vor dem Abschluss ihres Studiums standen und einen kleinen Einblick in das Leben eines frischgebackenen Lehrers bekommen sollten. Die Dozentin, die das Seminar leitete, drängte mich im Vorfeld, besonders herauszustellen, wie anspruchsvoll und belastend der Lehrerberuf sei. Damit war sie ganz nah dran am öffentlichen Diskurs, der ja auch keinen Beitrag über den Lehrerberuf liefern konnte, ohne auf die hohe Burn-out-Rate unter Lehrern hinzuweisen. Und das flankiert von der unseligen Rauin-Studie, zu der ich hier schon genug geschrieben habe. „Werdet nicht Lehrer“, so musste man das Konzert der Kritiker wohl verstehen.

Ich habe mich damals sehr dagegen gewehrt, weil ich diese Botschaft für falsch hielt und immer noch halte. Aber wenn das umgesetzt wird, was nach den jetzigen Berichten die Vorstellungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) sind, dann werde ich meine Meinung ändern müssen.

Was sind das für Vorschläge? Schlicht: Nicht nur gute! Ich beziehe nun auf den Artikel „Lehrermangel: Empfehlungen der SWK bedeuten Mehrbelastung für Lehrer“ (Paywall) von Heike Schmoll in der FAZ und das Dokument der SWK. Spoiler: Keine der Lösungen lautet: Mehr Geld, mehr Zeit oder Entschlackung von Aufgaben.

Zunächst empfiehlt man „den Ausbau von Initiativen zur Beschäftigung von Lehrkräften im Ruhestand“. Das ist durchaus lobenswert, denn wenn Kolleginnen freiwillig über die Altersgrenze hinaus arbeiten wollen und sich das geistig und körperlich zutrauen, ist dagegen nichts einzuwenden. Die Erleichterung der Anerkennung ausländischer Lehrkräfte ist ebenso ein richtiger Schritt wie die Nachqualifizierung von Lehrkräften in Mangelfächern. Bedenklich ist allerdings die damit einhergehende fachliche Entwertung des Unterrichts, sei es sprachlich oder fachlich. (Ich selbst bin ein solcher Nachqualifizierter im Fach Informatik und kann einem ausgebildeten Informatiker bei weitem nicht das Wasser reichen). Der Quereinstieg als Reservoir für Top-Leute sollte dringend gestärkt werden.

Damit ist der positive Teil dann auch im Wesentlichen abgearbeitet. Teilzeit? Ein Ärgernis! Die SWK empfiehlt, „die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit [insbes. auf unter 50%, Anm. d. A.] zu begrenzen“, dazu „flankierende Maßnahmen wie Kinderbetreuung, Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge […] und eine Unterstützung der Lehrkräfte im Unterricht […]) auszubauen“ und ansonsten „eine maßvolle Aufstockung“. Sabbatmodelle möchte man befristet einschränken. Ich brettere ja Vollzeit, aber ich weiß, dass alle Kolleg:innen gute Gründe für ihre Teilzeitentscheidung haben, seien es eigene Kinder, pflegebedürftige Eltern, das harte Single-Mom-Dasein oder schlicht die Hoffnung, mit 75% doch die 100% Anforderung bewältigen zu können. Denn machen wir uns nichts vor: Die meisten Teilzeitkräfte stecken, dank Konferenzen, Elterngesprächen, Arbeitsgruppen, Korrekturen usw. mehr Zeit ins System als die Reduktion auf dem Papier vorgibt. Weniger Teilzeit macht den Lehrerberuf nicht attraktiver.

Laute Alarmglocken schrillen bei dem Wort „Vorgriffsstunden“. Auch das schlägt die SWK vor, und das heißt nichts anderes, als dass alle für ein paar Jahre eine sogenannte „Vorgriffsstunde“ mehr arbeiten müssen, die dann irgendwann, vielleicht, eventuell wieder abgebaut werden kann. Das ist aber sehr unwahrscheinlich, wie die SWK selbst feststellt: „Einschränkend sieht die SWK aber, dass der anhaltende Lehrkräftemangel es in den kommenden 20 Jahren schwer machen wird, Vorgriffsstunden durch Deputatsreduktion auszugleichen, weshalb die finanzielle Abgeltung realistischer zu sein scheint.“ Nennen wir es also lieber bei der Wahrheit: Erhöhung des Stundendeputats.

Nach den Berichten der letzten Wochen ist es nicht verwunderlich, dass die SWK über befristete Abordnungen an andere Dienststellen und auch an andere Schularten nachdenkt. So könnten Gymnasiallehrer demnächst an Grundschulen eingesetzt werden, für die sie in keiner Weise ausgebildet sind und dafür unter Umständen weite Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen. Welche Auswirkungen das auf die Motivation sowie die Qualität des Grundschulunterrichts haben wird, wird uns die OECD schonungslos vor Augen halten.

Auch die unmittelbare Qualität des Unterrichts bleibt nicht unangetastet. Die SWK stellt sich vor, dass Lehrkräfte zukünftig auch ohne Quarantäne ganz regulär Hybridunterricht machen: In der Oberstufe sollen dann Kurse vor Ort unterrichtet werden, während andere Kurse per Videokonferenz zugeschaltet werden. Dazu fahren die Lehrer mal an die eine, mal an die andere Schule und unterrichten abwechselnd beide Kurse vor Ort und per Video. Das spart Lehrerstellen und mindert Motivation, Qualität des Unterrichts und die Gleichbehandlung der Schüler drastisch.

Zudem sollen sogenannte „Selbstlernzeiten“ erhöht werden. Schüler*innen sollen sich „Themen zunächst über geeignete Video-, Audio- oder Textmaterialien selbstständig und im eigenen Tempo aneignen“ und im Präsenzunterricht nur noch Verständnisfragen klären sowie vertiefen. Die Idee ist ja immer toll, aber wann und wo eignen sich die Schüler_innen das alles an? Wer bietet ihnen ruhige Orte? Oder soll das alles zuhause stattfinden? Wie das, wenn doch der Ganztag ausgebaut werden soll und Hausaufgaben am Nachmittag nicht erlaubt (und irgendwann auch schlicht kontraproduktiv) sind? Wer kümmert sich um die SchülerInnen, die damit ganz sicher überfordert sind? Was die Damen und Herren Professoren da vorschlagen, ist nichts anderes als ein Rezept, um die schon weit geöffnete Bildungsschere erst richtig weit aufzureißen!

Was für mich dann dem Fass den Boden ausschlägt, ist die schon vorweggenommene Schuldzuweisung und Geringschätzung, die sich hinter dem Punkt „Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung“ verbirgt, womit man keine eigentlichen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung meint, sondern diesen ganzen Pseudo-Resilienzquatsch. „Achtsamkeitstraining“ empfiehlt man den Lehrerinnen – die überforderten Lehrkräfte sind schlussendlich also selbst schuld, wenn sie ausbrennen. Da haben sie halt nicht genug auf sich selbst geachtet, was soll man nur machen? Auch ein „Kompetenztrainig“ wird vorgeschlagen, damit diese inkompetenten Subjekte endlich (endlich!) lernen, mit Unterrichtsstörungen angemessen umzugehen. Damit das richtig gut klappt, setzt man fürsorglich unter dem Schlagwort „eMental-Health“ auf „[v]ideobasierte Trainingsformate“. Dazu informiertes Geschwätz zur „Gesundheitsförderung als Organisationsaufgabe“. Man kann sich nur vorstellen, dass dieser ganze Wischiwaschi-Gesundheitsquatsch der Gewissensberuhigung dient, wo die SWK sich gerade ganz handfest anschickt, mit ihrem Vorschläge-Würgegriff auch die letzte Luft aus dem Lehrkörper herauszupressen.

Werdet nicht Lehrer. Der Burn-out ist euch sicher, denn dass sich schnell etwas bessert, daran glaubt die auch SWK nicht: „Das Problem des Lehrkräftemangels wird aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben.“

Schulöffnungen

Die Schulen werden nun schrittweise wieder geöffnet. Ich bin sehr gespannt, wie das laufen wird. Sehr lesenswert sind wie immer die Beiträge von Jan-Martin Klinge, der in „Guten Morgen, Schule!“ ein wenig Einblick in das Vorgehen seiner Schule gewährt, aber auch deutliche Kritik und Verantwortung an verkorksten Konzepten („Wäschekorb-Kommunikation“) bei den Schulen und Schulleitungen sieht.

Auch Maik Rieckens Blog sollte bei jeder Lehrerin zur Morgenlektüre gehören. Maik formuliert heute seinen Ausblick auf die kommenden Wochen. Dabei verweist er auf die Wichtigkeit einer gründlichen Informationsbeschaffung und nennt acht Grundsätze, wie sinnvolle Angebote für den Fernunterricht gestaltet werden sollten.

Hurensohn.

Ich bin kein großer Fan des Fußballs und verfolge bestenfalls die Ergebnisse der Spiele des 1.FC Köln aus nostalgischen Gründen, weniger aus Leidenschaft und noch weniger mit Herzblut. Ich weiß nicht einmal, wie der Trainer heißt. Fußball als Sport finde ich prima, zum ganzen gesellschaftlichen Getue um Fußball habe ich jedoch vollständig den Kontakt verloren. Mit dem letzten Spieltag hat mich der Fußball dann doch noch einmal eingeholt.

Gestern stieß ich darauf, dass man den Hoffenheimer Club-Manager Dietmar Hopp in verschiedenen Fußballstadien zeitgleich mit großflächigen Bannern öffentlich diffamierte. Der Kommentar im Spiegel beschreibt es so:

Keine Frage: Hopp als „Hurensohn“ zu bezeichnen, mag zur Fußball-Folklore gehören, geschmacklos ist sie dennoch, sein Gesicht „im Fadenkreuz“ ist es allemal.

Spiegel Online

Als ich mit dem Lesen dieses Absatzes fertig war, musste ich erst einmal den Kaffee vom Display putzen und meine Fassung wiederfinden. In einem der populärsten deutschen Onlinemedien wird die Beschimpfung „Hurensohn“ als „Fußball-Folklore“ verharmlost? Wie muss ich das verstehen? Gehört das auf und neben dem Platz eben so dazu, gegnerische Spieler, Trainer und Fans als „Hurensöhne“ zu bezeichnen? Muss man sich einfach damit abfinden? In Bayern trägt man Tracht, in Köln feiert man Karneval und im Stadion ist man „Hurensohn“? Und was muss man von Marco Fuchs‘ Relativierung des eigenen Urteils mithilfe des Wörtchens „geschmacklos“ halten? Ist Hurensohn lediglich „geschmacklos“? Wenn man weiße Tennissocken zu Birkenstocksandalen trägt, das ist geschmacklos. Jemanden als „Hurensohn“ zu beleidigen ist schlicht und einfach genau das: eine schlimme Beleidigung.

Ich kämpfe gerade schulisch durchaus hartnäckig gegen Beleidigungen exakt dieser Art – und offensichtlich ist es ein Kampf gegen Windmühlen, wenn Personen des Bildungsbürgertums (dazu darf man Spiegel-Redakteure doch noch zählen, oder?) solche Beleidigungen der untersten Schublade öffentlich als „Folklore“ verharmlosen. Kein Wunder, dass die 11- und 12-Jährigen sich heutzutage wie selbstverständlich des Rapper-Slangs bedienen, als wäre es das Normalste auf der Welt, jedermann und -frau als „Hurensohn“, „Hure“ oder „Nutte“ zu bezeichnen.

Utopischer Überschuss.

Hatte ich mir immer vorgestellt, dass der Kapitalismus alle Operationen zwecks Optimierung kleine evaluierbare Häppchen zerhackt und es zwecks Vergleichbarkeit und Druckerzeugung in publizierbare Listen presst, so überdreht der chinesische Kommunismus diesen Albtraum schon jetzt – und seine Opfer sind Grundschulkinder. 

Hochgradig verstörend ist dieser Bericht des Wall Street Journals über einen Versuch an Grundschulkindern in Shanghai. Dort wird die Aufmerksamkeitsspanne der Schulkinder mit Elektroden überwacht und direkt an der Stirn der Kinder farbig angezeigt, sodass die LehrerInnen in Echtzeit sehen können, welche Kinder aufmerksam sind und welche nicht. Gleichzeitig werden die Ergebnisse in eine Chatgruppe der Eltern gesendet, welche dann die Scores ihrer Kinder mit denen der anderen vergleichen können. Die Eltern haben anscheinende keine Idee, was mit den erhobenen Daten im Weiteren geschieht und scheinen sich gegenüber dem WSJ auch nicht daran zu stören, wenn diese im Anschluss weiterverarbeitet werden.

Der kurze Bericht des WSJ weist auch auf die Probleme der Kopfbänder hin. Die Messung ist nicht genau, vermutlich wird nicht einmal das gemessen, was man messen möchte. Der soziale Druck kommt trotzdem ganz real bei den Kindern und den Eltern an. Und auch wenn die Technik noch nicht vollständig funktioniert, ist schon das Ziel dieses Versuchs verwerflich. Zweitens finde ich neben dem Vermessen das soziale Unter-Druck-Setzen, das durch die Scores und die Eltern-Chatgruppe erzielt wird, empörend. Aber das durch die permanente Überwachung intendierte Selbstbild scheint ja bei den arglosen (oder nur öffentlich zurückhaltenden?) Eltern schon zu greifen.

Wird so etwas bei uns kommen? Wer weiß. Dankbare Empfänger einer solchen Überwachungstechnik (Deckmantel „selbstgesteuertes“ oder „algorithmisches Lernen“) wird es auch bei uns geben. Persönlich bin ich ganz bei @schb:

Basic

In Deutschland ist nun gerade der Digitalpakt auf Eis gelegt worden, ich schaue währenddessen YouTube-Videos von 8-Bit-Nerds. Und während ich mir die Grundlagen der BASIC-Programmierung ansehe, stelle ich fest, dass die Amis uns schon 1978 haushoch überlegen waren: Denn da beschreibt jemand, dass er viele tolle Basic-Programme einfach in seiner Freizeit in den Schulcomputer einhacken konnte. Unvorstellbar an einer deutschen Schule im Jahr 1978 – und unvorstellbar im Jahr 2018.

Hefte mit ellenlangen Basic-Listings kenne ich allerdings auch. Eine tolle und neue Idee sind dagegen für mich die Sci-Fi-Heftchen, in deren Handlung immer wieder kleine Programme in Basic eingebunden sind, die der neugierige Leser nachprogrammieren soll. Eine Verbindung von Lesetext und Programmierung – wie großartig!

Wenn man dann noch sieht, dass in amerikanischen Mathebüchern der 90er neben den Rechnungen Basicprogramme abgedruckt waren, dann weiß man, warum Facebook, Google, Microsoft, Apple und wie sie alle heißen, nicht aus Deutschland kommen.

Neuland eben.

Waffen. Jungs.

Kalt und sonnig ist es in den letzten Wochen hier in der Stadt, die es nicht geben soll.

In der New York Times kommentiert ein ehemaliger US-Marine, der nun als Lehrer tätig ist, darüber, warum es schlichtweg absurd ist, allen Menschen Zugang zu halbautomatischen Kriegswaffen zu gewähren. Er beschreibt, wie lange und wie hart seine Ausbildung als Soldat war, wie oft er die Waffe, mit der der Mörder 17 Menschen tötete,  zerlegen und zusammensetzen musste und dass es Munition nur auf den Schießständen gab. Sein Fazit:

I will immodestly state that among professors in the United States, I am almost certainly one of the best shooters. But I would never bring a weapon into a classroom. The presence of a firearm is always an invitation to violence. Weapons have no place in a learning environment.

Last month, the State Legislature in West Virginia, where my university is located, introduced the Campus Self-Defense Act. This would prohibit colleges and universities from designating their campuses as gun-free zones. If this act becomes law, I will resign my professorship. I will not work in an environment where professors and students pack heat.

Dass man dem Thema auch mit Humor begegnen kann, zeigen die von Bob Blume gesammelten Tweets. Hier in Deutschland kann man darüber zum Glück schmunzeln. Mein Highlight dieser Tweet von Frau X.:


Der Themenbereich „Jungs und Schule“ ist ein pädagogischer Dauerbrenner. Habe heute einen Podcast von SWR2 Wissen in meinem Podfetcher gefunden, der sich dem Thema „Jungs in der Schule. Das benachteiligte Geschlecht“ widmet. Habe ihn noch nicht ganz durchgehört, und bin mir mal wieder nicht sicher, ob der Podcasts bestehende Klischees verfestigt (Jungs mögen Mathe und Bewegung, Mädchen mögen Sprachen und häkeln) oder ob wir uns hartnäckig weigern, solche Geschlechterdifferenzen zu akzeptieren. Zu mir passt diese binäre Einteilung nicht so gut, ich habe als Junge sehr gerne gelesen, war als Stubenhocker verschrieen und Mathe war auch nicht so mein Fall.

Dass Jungs öfter school-shooten als Mädchen, das steht allerdings fest.

Vom „digital naive“ zum neuen Bürger?

Evgeny Morozov stellt im Interview mit der FAZ dar, warum er eine Historisierung der Entwicklung des Internets für wichtig hält, warum er lieber von „Digitalität“ statt vom „Internet“ spricht und was das alles mit einer möglichen Zukunft zu tun hat (via @schb).

Wenn ich die Debatte historisiere, kann ich Wege entdecken, wie das Internet ganz anders hätte aufgebaut werden können. Es ging nicht um Demokratie und Zugang. Unternehmen haben für uns definiert, wie die Infrastruktur intellektuell und technologisch aussehen sollte. Die Öffentlichkeit hat das akzeptiert und muss nun die Konsequenzen tragen. (FAZ)

Die Vermessung des Menschen

Sehr lesenswert, vielleicht auch, weil es ein wenig deutlich macht, wie wichtig es ist, sich Gedanken um diese digitale Welt um uns herum zu machen. Die Kolleginnen schauten mich letztens wie einen Marsmenschen an, als ich zum Ausdruck brachte, dass ich mir sehr wünschen würde, dass eine Partei wie die Piraten im Parlament derartige Themen auf den Tisch bringen würde. Naja, so denkt der langhaarige Nerd eben, will ’ne Computerspielepartei im Parlament, ein Internetfreak halt, dabei gibt es doch Seriöseres, mögen sie sich gedacht haben. Dabei hat uns die Digitalität schon längst im Griff.

„Präemptives Regieren“, wie so plastisch im Film „Minority Report“ dargestellt, gibt es schon und findet Ausdruck in grausamen Morden durch amerikanische Drohnen. Doch nicht nur Regierungen (und ich spare mir jetzt Ausflüge zu Prism, Tempora und NSA sowie GHCQ) nutzen die neuen Möglichkeiten von Big Data: Eine hemmungslose digitale Vermessung ist in den Bereichen Gesundheit und Finanzen schon lange im Gange. Und es geht weiter: Mit der neuen Xbox stellen sich die Käufer ein Gerät in ihre Kinderstuben und Wohnzimmer, das ganz unverhohlen einräumt, seine Benutzer abzufilmen und die Ergebnisse auszuwerten. Auch das Fernsehverhalten wird komplett überwacht, die Televisoren Orwells sind nicht mehr weit entfernt. Ranga Yogeshwars Befürchtung, dass Kameras anhand der Reaktion der Pupille erkennen können, welche Stelle im E-Book ihn anspricht, ist technisch keine Utopie mehr, wie viele beim Lesen des Erfahrungsberichts gedacht haben mögen.
Dass Facebook die – vermutlich aus gutem Grund – privat geschalteten Profile seiner Nutzer vor wenigen Wochen leichtfertig alle öffentlich geschaltet hat, zeigt einmal mehr, wie wenig Bedeutung der einzelne Nutzer im Rahmen von Big Data hat. Und wohin entwickelt sich dieses Datenungetüm, wenn immer mehr „smarte“ Gegenstände, von Handys über Navigationsgeräte und Uhren bis hin zu Kühlschränken, unsere Lebenswelt bestimmen?

Digitale Bürger

Morozov wünscht sich „Konsumenten […], die sich jedes Mal in Bürger verwandeln, wenn sie Daten preisgeben müssen“. In einem anderen Artikel „Ideologie des Datenkonsums: Der Preis der Heuchelei“ fordert er:

„Digitale Themen müssen Sache der Mainstreampolitik werden, wir dürfen sie nicht allein den Piratenparteien oder ihren Nachfolgern überlassen. Wir können das Internet nicht mehr in der Art eines Ressorts wie etwa „Wirtschaft“ oder „Umwelt“ behandeln und hoffen, dass sich dort Sachkompetenz herausbildet. Konkrete Themen wie „Privatsphäre“ oder „Subjektivität“ müssen diskutiert werden. Ein so hehres Ziel wie „Internetfreiheit“ können wir vergessen – es ist eine Illusion, der hinterherzulaufen sich nicht lohnt. Wir müssen vielmehr Umgebungen schaffen, in denen die reale Freiheit weiterhin gehegt und gepflegt wird.“

Darin stimme ich Morozov von ganzem Herzen zu.

Aufklärung für „digital naives“

Und wir stehen als Lehrer mittendrin in dieser Entwicklung. Doch was ist uns wichtig? Sollten wir uns wirklich so laut aufregen über den lächerlichen Versuch von behördlichen Facebook-Regulierungen, und sollen wir in unserem schulischen Medienmangelbewusstsein die digitalen Medien weiterhin so heillos überhöhen – oder sollten wir unseren Schülern nicht vermitteln, wie heikel und riskant diese bunte, hübsch bewegte digitale Wirklichkeit auch sein kann? Wollen wir die als „digital natives“ überhöhten „digital naives“ sehenden Auges ins offene Messer laufen lassen und sie in der Illusion belassen, eine andere digitale Welt abseits von Facebook und Google sei nicht möglich? Oder sollten wir vielleicht langsam anfangen, Digitalität und Demokratie zum Thema zu machen? Und ein anderes Internet zu denken versuchen?

Gaffa-Pädagogik

Von einem erstaunlichen Urteil darf man da gerade in den Medien lesen. Einige Erzieherinnen eines Kindergartens hatten Kindern zur Disziplinierung den Mund mit Klebestreifen zugeklebt und mussten sich daraufhin vor Gericht verantworten. Das Ergebnis:

Sie hätten die Kleinen damit disziplinieren wollen, teilte die Staatsanwaltschaft Mosbach mit. Da es in den meisten Fällen keine körperliche Beeinträchtigung gegeben habe, stellte die Behörde ihre Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt weitgehend ein. (Quelle)

Prima! Darf das jetzt jeder? Und genügt es immer, jemanden bei einer blöden, demütigenden Strafe einfach nur nicht körperlich zu beeinträchtigen?

(Und wo um alles in der Welt versteckt sich mein Gaffa-Tape? Blöder Umzug…)

„Jeder ist seines Glückes Schmied“

Maik Riecken und Herr Rau haben per Twitter auf einen Strauß spannender Texte verwiesen, die mich gehörig ins Grübeln gebracht haben. Dass der Bologna-Prozess einen Widerspruch zu allem darstellte, was ich pädagogischerseits über das Lernen gelernt hatte und eine Wende hin zu einer universitären Form des Neoliberalismus darstellte, war schon zu Uni-Zeiten zu beobachten. Dass eben dieser Prozess nun mit Verspätung auch in den Schulen ankommt, mit dieser These beschäftigt sich der Text von „Gebattmer“ im GBlog (und gibt dabei auch einen ersten Einblick in den Diskussionsstand).

Mehrere Größen einer modernen Schule werden dort und in den verlinkten Artikeln einer Untersuchung unterzogen: So wird der Trend zur Individualisierung ebenso kritisiert wie die Funktion von Qualitätsanalysen oder die Kompetenzorientierung der Lehrpläne. Der Blick auf Schule ist dabei ein politischer, kein pädagogischer, dadurch natürlich auch perspektivisch gefärbt, was aber den Überlegungen und Beobachtungen keinen Abbruch tut. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Text von Andreas Hellgermann, Lehrer und Theologe an einem Berufskolleg.

Machtausübung durch Individualisierung

Alle die oben genannten Kennzeichen einer Schule spiegeln, folgt man den Autoren, nichts anderes als eine Form von Machtausübung, die auf direkten Zwang oder Gewalt verzichtet, aber im Ergebnis einen Schüler garantiert, für dessen „Marktförmigkeit der erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen“ man garantieren kann; „der von Richard Sennet beschriebene »flexible Mensch«, der handeln kann, wo immer man ihn hinstellt, der funktioniert“ (Andreas Hellgermann).

Macht ohne Gewalt wird dadurch ausgeübt, dass man die Akteure (und das können sowohl die Schulen als auch die Schüler sein) durch den Zwang zur Selbstständigkeit lenkt, weil diese sich durch den Drang zur Individualisierung Beratern ausliefern, eigene Ziele formulieren und sich damit gleichzeitig der Kontrollinstanz der Standardisierung unterwerfen müssen:

»Jeder ist seines Glückes Schmied« ist eine so banale wie entscheidende Losung des neoliberalen Projektes, die immer dann aus der Tasche geholt wird, wenn es darum geht, die Ungerechtigkeit von Strukturen auf den Einzelnen abzuwälzen. Da dies in der Regel nicht zu einer Lösung, sondern tendenziell zur Überforderung des Subjekts in Schul-, Universitäts- und Arbeitszusammenhängen führt und der Einzelne nun damit beschäftigt ist, mit den jeweiligen Anforderungen klarzukommen, kann (…) die gesellschaftliche Grundordnung, nicht mehr in den Blick kommen und kritisch hinterfragt werden. (…)

An dieser Stelle wird nun auch deutlich, wozu die Standardisierungen in der Schule gebraucht werden: Sie sind die entscheidende Kontrollinstanz in Bezug auf das Handeln, weil nur mit ihnen überprüft werden kann, ob »richtig« gehandelt wurde. Und sie sind zugleich der Hinweis auf das Misstrauen gegenüber wirklicher Individualität und wirklicher Heterogenität, die möglicherweise doch zu »falschem« Handeln führen könnten.  (Andreas Hellgermann)

Erziehung zur Selbstkritik

Das klingt alles sehr theoretisch, aber ich habe meine Verwunderung noch gut vor Augen, als ich frisch von der Uni kommend, die gerade mit Anwesenheitszwängen und vorgefertigte Modulen die Freiheit des Lernens massiv beschränkte, ins nordrhein-westfälische Schulsystem wechselte, voller Ideen von offenerem Unterricht, freiem Lernen und der Erziehung zur Mündigkeit. Was mich dann erwartete, war ernüchternd. Pisa hatte mit seinen Schockwellen die Bildungsministerien erschüttert und nun erwarteten mich Vera 8, Vergleichsprüfungen in der damals noch existierenden zehnten Klasse und das Zentralabitur. Gleichzeitig sollten Schüler aber selbstbestimmt lernen, Lehrer möglichst nur als „Lerncoaches“ unterstützend zur Seite stehen, alle in ihrem eigenen Tempo lernen – letztlich aber bestens präpariert sein für die turnusmäßigen Disziplinierungs… äh… Prüfungen.. äh… Lernstandsmessungen. Weiterhin sollten die Schüler sich selbst bewerten, in Portfolios die eigene Entwicklung dokumentieren und sich zu Entwicklungsgesprächen (man nennt es Schülersprechtag) mit ihren Lehrern treffen.

Führt man dieses Vorgehen vom einzelnen Schüler und Lehrer weiter auf die institutionelle Ebene, so kommt man zwangsläufig auf das neu eingeführte Instrument der schulischen Qualitätsanalyse (gefühlt jede Schule meiner Twitter-Timeline hat aktuell eine vor oder hinter sich). Auch hier vereinbaren Schulen nach „wertfreier Evaluation“ bezüglich bestimmter „Qualitätsstandards“ (man zählt z.B., wie oft schulweit die Meldekette eingesetzt wurde!) „eigene“ Ziele und Lösungen, benötigen dafür „Coaches“, führen „Portfolios“ und müssen ferner dafür sorgen, dass neue Evaluationen stattfinden. Die Unterwerfung unter den neoliberalen Wirtschaftssprech ist bezeichnend, von einer Sprache der Pädagogik keine Spur. Bezugnehmend auf Foucaults Konzept der Pastoralmacht folgert Hellgermann, dass „Macht- und Disziplinierungstechniken in das Subjekt hinein verlagert“ werden und damit auch der Begriff der „Kritik“ sich wandele, indem er sich wesentlich nur auf Subjekte beziehe. Kritik gibt es dann nur noch an falschen Arbeitsabläufen, an falsch handelnden Subjekten, an fehlender Evaluation etc. Das System selbst entziehe sich der Kritik.

Ich finde die Beobachtungen Hellgermanns sehr bedenkenswert, wenn auch vieles in der Realität (zunächst?) weniger dramatisch erscheinen mag, und es zu bedenken ist, dass Schule nicht stromlinienförmig funktioniert und Lehrer sehr wohl nicht nur kompetenzorientiert, sondern immer auch inhaltlich arbeiten und eigenständiges Denken einfordern. Aber die Tendenz der Beobachtung ist bedenkenswert und wirft ein anderes Licht auf vieles, was auf den ersten Blick so nett und hilfreich wirkt.

Jauch und die Computer

Fand die gestrige Debatte bei Jauch gar nicht so übel, die Vorwarnungen auf Twitter hatten Schlimmeres befürchten lassen. Natürlich fehlte während der gesamten Debatte die Perspektive auf ein Lernen mit neuen Medien, das per Einspieler eingebrachte  Whiteboardbeispiel spiegelt aber wohl ganz gut wider, wo wir gesellschaftlich gerade stehen: Alte Methoden (Tesakrepp und Pappkarten) durch digitale zu ersetzen (Wörter am Whiteboard verschieben). Wir müssten eigentlich über neue Methoden nachdenken, statt alte zu kopieren.
Petra Gerster erinnerte mich in ihrer Haltung an manche Kollegen, vermutlich wegen ihrer Meinung, man könne nur lernen, was man mit der Hand geschrieben habe. Spitzer ging darauf heftig ein, ich dagegen kenne keine Studie, die das belegen würde. Erinnere mich aber gut an meine Schulzeit, wo ich bei vielen Tafelanschrieben Wörter vertauschte, in der Zeile verrutschte oder Wortbrocken dessen niederschrieb, was ich mit meinen Nachbarn bequatschte. Gut gefiel mir insgesamt die ruhige, sachlich vernünftige Haltung Ranga Yogeshwars.

Godwins Telefonnummer
Keine Debatte über Smartphones ohne Telefonnummern: Als ob die Menschheit nicht Jahrtausende lang ihre Intelligenz auch ohne das Aufsagen ellenlanger Zahlenkolonnen unter Beweis gestellt hätte. Auch schade, dass Lernen letzlich immer nur auf das Auswendiglernen von Inhalten reduziert wird. Und dann sitzen ausgerechnet diese Menschen vor den ungeheuren Maschinen und können nicht  mit ihnen umgehen, weil die Spitzers dieser Welt ihnen Gründe geben, sich diesem Lernen zu verweigern. Sie merken sich wohl Telefonnummern, kennen aber weder sichere Passwörter noch Shortcuts oder einen Weg, ihren Computer ordentlich zu konfigurieren.

Lernen kann man zuletzt immer nur in Auseinandersetzung mit der Welt. Diese ist heute aber eben immer auch digital.

Lesetipp dazu: Faz.net-Frühkritik: Kümmert euch um die Digitalo-Kids!