Fernsehtipp, Negerkönige und eine Prüfstelle

Fernsehen
Heute um 22:30 Uhr auf Phönix: Lehrerzimmer. Ein Schuljahr. Eine Beobachtung eines Lehrerzimmers über den Zeitraum eines Jahres hinweg. Bestimmt interessant für Menschen, die ein Lehrerzimmer noch nie von innen gesehen haben, aber ich spinxe auch immer gerne in fremde Lehrerzimmer.

Der „Negerkönig“
Im Halbtagsblog macht sich Jan-Martin Klinge Gedanken zum „Negerkönig“. Ich hatte schon einen kompletten Blogbeitrag dazu eingehackt, ihn dann aber wieder verworfen, weil man bei diesem Thema aus dem Bermudadreieck der Political Correctness nicht heil herauskommt. Man merkt beim Schreiben sehr schön die Zwickmühle eines aus der Mehrheitsgesellschaft Stammenden, der sowohl ein väterlich-herablassendes „Ist doch alles gar nicht so gemeint“ dahinlächeln als auch besorgt-faltenstirniges Verständnis aufbringen kann, ohne selbst ernsthaft betroffen zu sein. Irgendwo zwischen Sprachwandel, Respekt und verlorengehender Historizität; sich Achtung in die Tasche lügen und kleine Zeichen des Entgegenkommens senden schwebt diese Entscheidung, das Wort „Neger“ zu bannen.

DGB fordert Prüfstelle für freie Unterrichtsmaterialien
Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert eine „Prüfstelle für freie Unterrichtsmaterialien“. Ganz unbegründet ist diese Idee nicht, entbehrt aber auch nicht einer gewissen Dämlichkeit. Die Sorge des DGB ist berechtigt, nämlich dass interessierte und finanziell starke Wirtschaftsverbände ihre Sicht auf Wirtschaft und Gesellschaft durch kostenfreie Unterrichtsmaterialien befeuern könnten. Das ist nicht von der Hand zu weisen und ich habe mir schon 2007 einmal Gedanken dazu gemacht, warum man als Politiklehrer mit hübschen Broschüren und tollen Unterrichtsvorschlägen förmlich zugekleistert wird. Dämlich ist, das der DGB glaubt, eine Prüfstelle würde etwas nützen: Wer um alles in der Welt will Unternehmen davon abhalten, kostenlos Materialien auf ihren Sites zu veröffentlichen, und wer will Lehrer davon abhalten, diese herunterzuladen? Was ich wie im Unterricht einsetze, kontrolliert letztlich niemand. Und das ist auch gut so – unter Umständen kann gerade das perspektivisch vorgefärbte Material nützlicher sein als das vermeintlich neutrale, glattgebügelte. Um auf den Begriff „Neger“ zurückzukommen: Man kann an ihm leichter Kolonialismus und gesellschaftlichen Bewusstseinswandel zeigen als an aktuellen politisch korrekten Begrifflichkeiten.

Herr Larbig weist darüber hinaus darauf hin, dass der besorgte Vorschlag des DGB auch „OER“ (Open Educational Ressources) betreffen und deren Verbreitung damit erschweren könnte. Es gehe dem DGB um Arbeitsplätze in den Verlagen:

Ein Schelm, wer glaubt, es ginge Gewerkschaften um die Qualität von kostenlosen Lernmaterialien und nicht zuerst um die Erhaltung der Arbeitsplätze in den Schulbuchverlagen.

Ich denke eher, es geht dem DGB um politische Deutungshoheit, und wie gesagt, nicht ganz unbegründet. In meiner kurzen Phase als fachfremder Politiklehrer habe ich schon gemerkt, wie sehr man von den Unternehmen betüddelt wird. So toll aufbereitetes Material zur Aufarbeitung des Holocaust bekommt man von Unternehmen nicht so leicht…

Jauch und die Computer

Fand die gestrige Debatte bei Jauch gar nicht so übel, die Vorwarnungen auf Twitter hatten Schlimmeres befürchten lassen. Natürlich fehlte während der gesamten Debatte die Perspektive auf ein Lernen mit neuen Medien, das per Einspieler eingebrachte  Whiteboardbeispiel spiegelt aber wohl ganz gut wider, wo wir gesellschaftlich gerade stehen: Alte Methoden (Tesakrepp und Pappkarten) durch digitale zu ersetzen (Wörter am Whiteboard verschieben). Wir müssten eigentlich über neue Methoden nachdenken, statt alte zu kopieren.
Petra Gerster erinnerte mich in ihrer Haltung an manche Kollegen, vermutlich wegen ihrer Meinung, man könne nur lernen, was man mit der Hand geschrieben habe. Spitzer ging darauf heftig ein, ich dagegen kenne keine Studie, die das belegen würde. Erinnere mich aber gut an meine Schulzeit, wo ich bei vielen Tafelanschrieben Wörter vertauschte, in der Zeile verrutschte oder Wortbrocken dessen niederschrieb, was ich mit meinen Nachbarn bequatschte. Gut gefiel mir insgesamt die ruhige, sachlich vernünftige Haltung Ranga Yogeshwars.

Godwins Telefonnummer
Keine Debatte über Smartphones ohne Telefonnummern: Als ob die Menschheit nicht Jahrtausende lang ihre Intelligenz auch ohne das Aufsagen ellenlanger Zahlenkolonnen unter Beweis gestellt hätte. Auch schade, dass Lernen letzlich immer nur auf das Auswendiglernen von Inhalten reduziert wird. Und dann sitzen ausgerechnet diese Menschen vor den ungeheuren Maschinen und können nicht  mit ihnen umgehen, weil die Spitzers dieser Welt ihnen Gründe geben, sich diesem Lernen zu verweigern. Sie merken sich wohl Telefonnummern, kennen aber weder sichere Passwörter noch Shortcuts oder einen Weg, ihren Computer ordentlich zu konfigurieren.

Lernen kann man zuletzt immer nur in Auseinandersetzung mit der Welt. Diese ist heute aber eben immer auch digital.

Lesetipp dazu: Faz.net-Frühkritik: Kümmert euch um die Digitalo-Kids!

Als Lehrer schnell reich werden in drei Schritten

  1. Unterrichtsentwürfe / -einstiege / -ideen urheberrechtlich schützen lassen; am besten Patente für bestimmte Unterrichtsgänge
  2. Warten und Kollegen beobachten (vor Ort, per Twitter, Facebook, Google+ usw.)
  3. Einen geheimen Deal mit einem Abmahnanwalt aushandeln und abmahnen, bis das Konto platzt

Müsste doch möglich sein, immerhin ist das Unterrichten auch ein kreativer Vorgang, bei dem Gedankengänge, Arbeitsschritte und Material abhängig von Publikum und Stoff eigenständig gestaltet und komponiert werden müssen. Warum also nicht also auch Elemente des Unterrichts (z.B. Einstieg mit einer Karikatur, Verteilen von Arbeitsblättern, Bitte um Aufschlagen des Schulbuches etc.) patentieren, rechtlich schützen lassen? Und schon höre ich die ersten protestieren, dass das eine unmögliche Idee sei, wir bräuchten „Lernmittelfreiheit“ und „OER“ und so einen Quatsch. Unsinn. Das ist der falsche Weg, wir müssen das Urheberrecht in Wirklichkeit viel rigider ausleben und Anwälte einschalten, bis die Schwarte kracht! Denn das würde doch allen Beteiligten helfen:

Den Schüler besonders. Denn müssten unter solchen Bedingungen nicht alle Lehrer ihre eigenen Ideen entwickeln, wenn sie nicht lizensiertes Material kaufen wollen, und würde das den Unterricht nicht erheblich verbessern, sodass ein massiver Schutz des geistigen Eigentums der kreativen Lehrer den Unterricht nicht sogar bundesweit verbessern würde?

Den Lehrern auch, besonders den faulen, die nun endlich Anreize hätten, eigenständig kreativ zu werden. Und die kreativen Lehrer bekämen Tantiemen von denen, die sich auf deren Mühen einen faulen Unterricht machen. Zudem würde endlich einmal das geistige Eigentum dieser Kolleginnen und Kollegen angemessen respektiert und vergütet, nachdem nun schon über Dekaden hinweg hemmungslos kopiert und schmarotzt wurde.

Den gebeutelten Abmahnanwälten, die endlich mal wieder etwas zu tun hätten. Es studieren doch sowieso zu viele junge Menschen Jura und man hat es als Abmahnanwalt ja auch nicht leicht.

Olle Kamellen

Immer wieder werfen bestimmte Presseurheber olle Kamellen unters Volk und verkaufen sie als neue Erkenntnis, vielleicht, weil sie ihr Bildungsressort irgendwie mit „Content“ vollstopfen müssen. Der Zeit-Artikel über die Pädagogenausbildung (via @martinlindner) vom 11.5. hätte nach einem guten Einstieg durchaus das Zeug für einen guten Artikel gehabt, wenn er dann nicht auf halber Strecke in Platitüden und ollen Kamellen ersoffen wäre. Aber fangen wir vorne an.

Vor ein paar Jahren wäre der Rest dieses Artikels ähnlich einseitig ausgefallen wie die Vorurteile auf jener Studentenfete. (…) Heute handelt ein Artikel zur Lehrerbildung von Studienanfängern wie Beke Brandenburg.

Schön, ein optimistischer Einstieg. Einer, der Lehramtsstudenten Mut macht und sie nicht als Studenten zweiter Klasse abqualifiziert (was mich ja rasend macht, wenn ich meine Prüfungsordnung mit der meiner ehemaligen Nicht-Lehramtsstudenten vergleiche…). Und der Artikel mildert meine skeptische Haltung gegenüber der neuen Referendarsausbildung durch eine hoffentlich verbesserte Uni-Ausbildung, die das Lehramt mit besonderem Augenmerk bedenkt.

Aber dann wird der Artikel ziemlich merkwürdig. Da zieht man neuere Studienergebnisse heran, die feststellen, dass Lehrer, die schon 20 Jahre oder länger im Beruf stehen, nur noch zu 39% mit Freude ihren Beruf ausüben würden – und bezieht dies kausal und direkt auf deren Lehrerausbildung. Schön zurechtgebogen! Dass bei älteren Kollegen die Gründe vermutlich eher anders gelagert sein könnten (überbordende Bürokratie, Reformwahnsinn, im Laufe der Zeit die Lust verloren etc.), erwähnt man im Artikel nicht. Ähnlich undifferenziert geht es dann auch weiter. Ich zitiere mein Highlight:

Das Ergebnis der sogenannten Coactiv-Ergänzungsstudie: Jene Lehrer, die nicht nur inhaltlich ihr Fach beherrschten, sondern es auch didaktisch gut vermitteln konnten, hatten Schüler, die bei Pisa besser waren.

Bahnbrechend! Wahnsinn! Das hätte niemand gedacht. Ehrlich? Auf den Lehrer kommt es an? Und dass, wo wir doch iPads, Computer und Wikipedia haben… und der gute Lehrer wird dann auch mit einem Beispiel illustriert:

Warum nicht die Gitarre mitbringen, wenn man in der neunte Klasse in Physik über Akustik und Frequenzen redet?

Womit wir wieder bei den ollen Kamellen wären, ich kenne Referendare, die schon vor etwa fünfundzwanzig Jahren das Phänomen der Induktion anhand einer E-Gitarre demonstriert haben. Für ältere (kinderlose?) Journalisten ist das möglicherweise alles völlig neu und irrsinnig kreativ – im Schulalltag haben solche Ideen jedoch immer schon ihren Platz gehabt.

Ob die neue Lehrerausbildung so toll wird, wie im Artikel besungen, und nicht nur ein billiges Stellensparmodell, bei dem man die praktische Ausbildung („Praxissemster“) zusätzlich ohne Entlastung den Schulen aufbürdet, das werden wir herausfinden, indem wir dem Ganzen einfach mal etwas Zeit geben und die Entwicklung beobachten.

Von der Vermessung der Lehrer und selbstbestimmten Klassenarbeitsterminen

Lisa zwitscherte gerade einen Link zum NYRBLOG mit dem Titel „No student left untested“, in dem die Bloggerin von einer Vereinbarung zwischen dem NY State Education Department und Lehrerverbänden berichtet, dass man in Zukunft die Testergebnisse der Schüler verwenden will, um die Lehrer zu bewerten und deren berufliches Schicksal direkt und auch zeitlich unmittelbar mit diesen Ergebnissen zu verknüpfen. Ich muss leider stark kürzen:

But one sentence in the agreement shows what matters most: “Teachers rated ineffective on student performance based on objective assessments must be rated ineffective overall.” What this means is that a teacher who does not raise test scores will be found ineffective overall, no matter how well he or she does with the remaining sixty percent. In other words, the 40 percent allocated to student performance actually counts for 100 percent. Two years of ineffective ratings and the teacher is fired. (Hervorhebung von mir)

Im Weiteren erläutert die Autorin, warum dieses Vorgehen aus ihrer Sicht zwangsläufig zu schlechtem Unterricht und schlechteren Lehrern führen wird, und sie schreibt dabei einen sehr lesenswerten Artikel, den sich mancher Bildungsvermesser ins Stammbuch schreiben sollte.

Ich bin ja nun noch nicht so lange dabei, dass ich Langzeitbeobachtungen aufstellen könnte, aber ich finde es durchaus frappierend, wie unterschiedlich Lerngruppen und ihre Ergebnisse sein können. Mit manchen kann man nahezu permanent „unter Volldampf“ arbeiten und die tollen Leistungen entstehen von selbst, mit anderen muss man fast ringen, damit Ähnliches dabei herauskommt. Habe da gerade eine Grammatik-Arbeit vor Augen, die im letzten Jahrgang desolat ausfiel, im aktuellen Jahrgang dagegen bestens. Dass mein Unterricht sich so drastisch verbessert haben soll, glaube ich kaum. Solche Schwankungen als Basis für die Entscheidung zu nehmen, ob jemand als Lehrer arbeiten darf oder nicht, ist nicht wissenschaftlich, sondern fahrlässig.

Am AEG: Zeitpunkt für Klassenarbeiten selbst bestimmen
Umso schöner, dass es tatsächlich Schulen gibt, die inmitten all dieser heillosen Vermesserei auch andere Wege zu gehen versuchen. Im Albrecht-Ernst-Gymnasium in Oettingen, das ich schon einmal besuchen durfte, verzichtet man mittlerweile auf herkömmliche Klassenarbeiten in Drucksituationen:

Auch die zahlreichen Studien, die belegen, dass Schüler unter Angst und Druck schlechter lernen als ohne diese Stressfaktoren, hat das Team in Oettingen ernst genommen. Das gefürchtete Abfragen zu Beginn jeder Stunde und die vielen unangekündigten Exen wurden kurzerhand abgeschafft. „Die Kinder kommen zum Lehrer, wenn sie sicher sind, ein Themengebiet zu beherrschen, und sagen, dass sie einen Test schreiben wollen“, sagt Schmalisch. Es sei wie bei der Führerscheinprüfung: Ob jemand sich nach zwölf oder nach 30 Fahrstunden anmeldet, ist unwichtig – Hauptsache, er kann fahren. (Süddeutsche)

Ideen zum Kanon

Ich hatte diesen Artikel schon am 3. Dezember angefangen, dann beim Schreiben bemerkt, wie komplex dieses Thema ist, um den Artikel darum in die Entwürfe-Tonne zu legen und ihn aufgrund einer gestrigen Twitter-Debatte nun doch wieder hervorzuholen. Thema der Debatte (mit @lisarosa, @eisenmed und @dunkelmunkel) war der „Kanon“ und der Streitpunkt der, ob man einen Kanon überhaupt braucht und ob man nicht im Sinne einer neuen Lernkultur auf ihn verzichten solle.

Mein Eindruck war nach einiger Zeit, dass die Debatte sich im Kreis drehte, weil unter den Diskutanten offensichtlich unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, was der „Kanon“ nun eigentlich sei. Darum hier meine Sicht auf den Kanon, aber wie oben schon angedeutet: Das ist alles Stückwerk und vorne und hinten nicht völlig durchdacht – dafür bräuchte man vermutlich auch weniger ein Blog, denn vielmehr eine Monographie. Das Folgende kann ich hier also nur thesenartig ausspucken:

  • Meiner Ansicht nach ist der Kanon die Summe dessen, was eine Gesellschaft für bemerkenswert erachtet. Der Kanon ist, wenn man ihn so versteht, gesellschaftlich determiniert, denn gewisse Inhalte (z.B. Romane, Filme, Musikstücke, Kunstprodukte, evtl. sogar ganze Genres) werden von einer gesellschaftlichen Masse als relevant und bildend verstanden. Als Trägerschicht mag dabei durchaus das Bildungsbürgertum fungieren, und zwar sowohl, indem es eine bestimmte Erwartungshaltung an den Tag legt, was man als Jurist, Arzt, Manager etc. wissen sollte, als auch, indem es sich für die Verbreitung des Kanons durch Journalismus, Universitäten und natürlich auch in der Schule verantwortlich zeigt.
  • Der Kanon ist nie neutral oder objektiv, sondern immer auch ein implizit politisches Instrument oder wenigstens ein Indikator für politische Grundhaltungen. Er ist vielleicht sogar ein Abziehbild seiner Gesellschaft – ein Spiegelbild dominierender und dominierter Kräfte. Und dennoch kann eine dominierende gesellschaftliche Gruppe den Kanon nicht einfach diktieren, da dieser in großen Teilen historisch gewachsen ist. Der Kanon entwickelt sich mit seiner Gesellschaft; ehemals kanonische Gegenstände verschwinden, neue kommen hinzu.
  • Es ist in meinen Augen Utopie, zu glauben, wir könnten den Kanon abschaffen: Wir würden uns automatisch immer wieder einen neuen kreieren. Bestimmte „treibende“ Gruppen würden immer wieder diskursiv neue Inhalte definieren, und dabei neue Autoren, Musiker, Maler, Künstler, Gegenstände über andere erheben, die damit faktisch zum neuen Kanon gerinnen würden. Es stellt sich letztlich nur die Frage nach der Deutungshoheit.

So weit erste unfertige Gedanken zum Kanon, viele Ideen / Problemstellungen kommen mir jetzt erst während der Auseinandersetzung. Nichtsdestotrotz denke ich, dass ich mit einem Kanon gut lehren kann – solange er mir ausreichend Wahlmöglichkeiten bietet.

Wider Spott und Häme

Hui – die grauen Monate November und Dezember sind die ätzendste Zeit im Schuljahr. Klausuren und Klassenarbeiten stapeln sich, sämtliche Konferenzen müssen vollzogen, der Tag der offenen Tür vorbereitet und zu allem Überfluss kilometerweise Papiere für eine Qualitätsanalyse geschrieben werden. Wann soll ein normaler Mensch da noch zum Bloggen kommen?

Mittlerweile stapeln sich nämlich auch abseits des schnöden Alltags viele diskussionswürdige Themen: Twitter ist erbarmungslos und gibt einen gnadenlosen Takt vor, wer nicht dranbleibt, ist abgehängt – ich hänge gerade noch mit einem Zeigefinger am letzten Waggon und arbeite mich mit diesem Beitrag wieder ein Stück vor. Es folgen: Ein kurzer Rückblick aufs EduCamp 2011 und ein Kommentar zu Überzeugungsarbeit. OER schaffe ich gar nicht mehr… ich springe einfach auf den nächsten Zug auf…

EduCamp Bielefeld 
Das EduCamp (#ecbi11) war in zweierlei Hinsicht eine tolle Erfahrung: Erstens bot sich die Möglichkeit, neue Ideen zu diskutiere, Anstöße für einen neuen Unterricht zu bekommen und die Form eines Barcamps kennenzulernen. Zweitens konnte ich in Bielefeld endlich einmal diese vielen Menschen treffen, die ich zum Teil schon viele Jahre online kenne, aber noch nie „life“ sehen konnte und auch neue kennenlernen. Alle diese Begegnungen fand ich sehr angenehm und freue mich auf ein nächstes EduCamp.

Daneben bleibt besonders die Motivation, neue Ideen einfach anzupacken und umzusetzen. Dem Versuch, mit einer digitalen, möglichst papierfreien Schultasche „auszukommen“, unterziehe ich mich jetzt einfach, und in meinen Oberstufenkursen sind die wenigen neuen (und zum Glück(?) selten benutzten) Notebooks seit dem EduCamp im Dauereinsatz. Google und Etherpads sind eingeführt und die Schüler arbeiteten damit sofort sehr strukturiert und zielführend. Viel besser als Wikis (furchtbar! Da konnte mich auch das Camp nicht überzeugen…) oder das umständliche Moodle.

Um Überzeugung muss es uns gehen
Der „Ton“ auf dem EduCamp war auch viel angenehmer als es bei Twitter manchmal den Anschein hat. Alle Themen konnten sachlich und ohne persönliche Animositäten diskutiert werden, während ich zunehmend den Eindruck habe, dass sich Twitter zum pseudo-intellektuellen Schlachtfeld entwickelt (bzw. vielleicht noch nie etwas anderes war als ein Medium zur Selbstvergewisserung). Vieles wirkt auf Twitter radikal und modernistisch, technikgläubig. Das „Alte“ (bspw. die sog. „Buchkultur“, Handschrift, fremdbestimmtes Lernen) wird zum Teil sehr massiv in Frage gestellt, was, würde die Kritik konstruktiv geübt, durchaus sinnvoll sein mag, doch leider wird für meinen Geschmack zu oft gering geschätzt, abgewertet, gespottet.

Diese Grundhaltung drückt sich heute in einem Beitrag im Geschichtsblog Daniel Bernsens aus, der über das speedlab2 schreibt:

Es gibt eine wachsende Kluft zwischen einer veränderten und sich weiter verändernden Gesellschaft (und damit auch Lebenswelt der Lernenden sowie der Arbeitswelt) und einer sehr trägen Institution Schule. Problematisch finde ich allerdings, die auch heute wiederholt gehörte Formulierung bisher sei aller Unterricht „schlecht“, „öd“, „fad“, „langweilig“ gewesen (alles heute auf dem Podium heute ernsthaft so geäußert). Das ist schlicht falsch und führt nicht weiter. Viele Kollegen fühlen sich damit zu Recht angegangen, ungerecht und falsch beurteilt und verschanzen sich, wie zu erwarten, in einer Abwehr- und Verteidigungshaltung. (Hervorhebung von mir)

Damit trifft Daniel genau den Punkt! Niemand wird überzeugt, indem man ihm vorhält, wie überholt, veraltet oder rückständig er sei. Dass alles „Alte“ sinnlos gewesen sei, werden die Kollegen (zu recht!) brüskiert von sich weisen. Doch um das Überzeugen muss es uns gehen! Nicht um das zwangweise Einführen einer neuen Lernkultur – weil jeder, der nicht mitmacht, als altmodisch und doof dasteht  – sondern darum, dass eine neue Lernkultur aus der Überzeugtheit ihrer Akteure heraus entsteht. Aber dafür muss erst Überzeugungsarbeit geleistet werden, bei der Spott und Häme mehr als hinderlich sind.

Und wer das nicht im Auge behält, wird entweder (im warmen, kleinen, als elitär empfundenen Zirkel) scheitern oder sich des gleichen Mittels bedienen müssen, das er bei den anderen anprangert: Nämlich systemischem Zwang.

Ein Plädoyer für das Blog

Herr Larbig macht sich in einem langen Artikel Gedanken über den Stellenwert von Blogs in Zeiten von Twitter, Facebook und Google+. Was haben Blogs zu bieten, angesichts relativ geringer Nutzerzahlen, sprich: weniger Öffentlichkeit und der Konzentration von Debatten auf große Social Networks? Eine gute Frage, die ich mir in letzter Zeit auch immer wieder gestellt habe. Ist es heutzutage noch sinnvoll, ein Blog zu führen? Bitte nicht enttäuscht sein: Ich habe keine Antwort, nur meine Sichtweise.

Von Öffentlichkeit, Offenheit, Reichweite und Authentizität
„Öffentlichkeit“ wird in Diskussionen dieser Art meist mit „Reichweite“ verwechselt. Dieses Blog hier ist viel öffentlicher als mein Facebook-, Google- oder Twitterprofil. Und auch viel offener, denn dank des Archives, das teilweise bis in meine Studienzeit zurückreicht (leider ist durch Bloganbieterpleiten und Systemwechsel einiges verloren gegangen), kann man zumindest in Ansätzen Aspekte meine Persönlichkeit erahnen, politische Haltungen herauslesen, Entwicklungen nachvollziehen, Vorlieben und Abneigungen erkennen. Das wird wohl Facebook und Google selbst dank ihrer unglaublichen Vernetzung mit diversen anderen Diensten gelingen können, kaum aber den einzelnen Lesern bei Facebook oder Google. Und dass ich hier etwas von mir preisgebe, ist auch schon der ganze Sinn der Übung: Ich schreibe zeitweise ganz gerne und da ich kaum zum großen Romancier tauge, schreibe ich hier eben vor kleinem Kreis über einen bestimmten Aspekt meines Lebens. Irgendwann hat meine Bloggerei schließlich damit begonnen, dass ich auf der Suche nach einer Tagebuchsoftware war und bei 20Six gelandet bin und erst später meine Lehramtsinhalte hierhin ausgegliedert habe. Anderen Bloggern wird es ähnlich gegangen sein, zumindest gefühlt habe ich den Eindruck, jemandem in dem, was er schreibt, mehr vertrauen zu können, wenn ich ihn per Blog kenne und nicht nur per Twitter oder Google+. Blogger wirken auf mich authentischer.

Der kleine Kreis
Die Reichweite meines Blogs ist verglichen mit Twitter oder Google+ lächerlich gering. Jedoch sind die Leute, die ich hier erreichen kann, genau die Richtigen. Auch die Suchmaschinen scheinen mir immer präziser die Menschen hier hinzuschicken, die mit meinen Beiträgen wirklich etwas anfangen können. Herrn Larbigs langen Artikel hätte ich auf Google+ wegen seiner Länge in der großen Masse vermutlich einfach überscrollt, so wie ich es heute schon mit einem halben Dutzend mehr oder weniger sinnvoller und sinnloser längerer Beiträge dort gemacht habe. Aber wenn jemand einen Beitrag in seinem Blog postet, dann scheint ihm der Inhalt so wichtig zu sein, dass er ihn nicht im flüchtigen Meer eines Social Networks verschütten möchte.

Dabei ist der „kleine Kreis“ die sichere Bank, eine Gruppe Gleichgesinnter, die, einmal auf den Lehrerberuf bezogen, nicht nur fachlich, sondern auch persönlich etwas mit dem Geschriebenen anfangen kann. Während man bei den Social Networks mit zunehmendem Wachstum zusehen muss, Aufmerksamkeit im doch mehr oder weniger anonymen Tohuwabohu zu erheischen, habe ich hier viel mehr den Eindruck, meine Leser zu kennen, sie einschätzen zu können und bei Debatten entsprechend reagieren zu können. Blogs bieten hier gerade aufgrund ihrer geringen Reichweite vielleicht sogar eine Art „familiären“ Schutzraum, der es eben auch leichter macht, zu diskutieren, strittige Themen anzuschneiden und dem anderen zuzuhören.

Und darum sind und bleiben für mich Blogs die wahren Perlen des Internets, weil ihre Nutzer sich durch ihre in Artikeln gebundene Persönlichkeit (und nicht durch Klarnamen, Profession oder Geburtsurkunde) „authentifizieren“, weil sie Überlegtheit und Ruhe in Produktion und Rezeption zulassen, dabei weniger flüchtig sind,  und weil der Leserkreis, obwohl immer dynamisch, so doch immer irgendwie überschaubar bleibt oder wenigstens scheint.

Im Ergebnis lese ich trotz der Einführung von Google+ seit einigen Wochen wieder viel mehr in „meinen“ Blogs und nehme die flüchtigen Netzwerke eher flüchtig wahr. Und wenn in zehn Jahren die Menschen ihre Twitter-Accounts gelöscht oder Facebook den Rücken gekehrt haben sollten, weil die Karawane ja immer weiter zieht, und Google von Baidu aufgekauft wurde, dann werde ich in diesem Blog immer noch für meine fünf Leser Artikel tippen. Ohne große Reichweite, aber mit großer Freude.

Scheinproblem

Da ich in letzter Zeit nicht viel zu erzählen habe, leite ich einfach mal an Christoph weiter, der sich über eines der vielen Scheinprobleme ärgert, die die Welt der Pädagogik so oft beschäftigen.

Die bunte Mischung

Das Schöne an den Weihnachtsferien ist, dass man so von der Familie eingenommen wird, dass man – ungeachtet der Klausurenstapel –  keine Gelegenheit hat, an Schule zu denken. Das hat was, das gelingt mir in keinen anderen Ferien so gut und vollständig. Und nicht nur ich gebe mich dem faulen Weihnachtstaumel hin, auch die Publizisten frönen sentimentalen Erinnerungen an ihre Schulzeit. Schon seit etwa einer Woche verlinkt wird Charlotte Haunhorst auf jetzt.de mit ihrem Artikel „Sie haben uns völlig falsch aufs Studium vorbereitet“, die ihre vor drei Jahren beendete Schulzeit reflektiert und feststellt, dass in der Schule mehr Transfer gefordert war als beim Bulimie-Lernen in der Uni.

Etwas aktueller ist der schöne, achseitige Artikel bei Zeit.de. „Wir müssen die Welt retten“ lautet der Titel und der Autor erzählt mit ruhiger Stimme von einem „Schulbesuch“ seiner alten Schule, die nun, dreißig Jahre nach seinem Abitur, abgerissen wird. Im Zentrum steht jedoch nicht das Schulgebäude, sondern die alten Lehrer, die Sußebach besucht. Denn er gleicht die Bilder, die der junge Schüler hatte, mit denen, die der reife Mann von heute hat, ab und erkennt rückblickend:

Hier war so viel guter Wille. So viel Herzblut. So viel Kraft und so viel Kräfteverschleiß. Es gab ein Kollegium in einer bunten Mischung, wie sie heute selten ist. Es gab Verlierer, ausgerechnet unter den enthusiastischen Lehrern, die so viel von sich und uns erwartet haben. (Zeit.de)

Das Projekt Weltrettung ist unter Verlusten erfolgreich gescheitert. Aufschlussreich, wie immer, die Kommentare. Manche Kommentatoren scheinen der Idee anzuhängen, es gebe den „richtigen“ Lehrer, man müsste ihn nur finden, ausbilden, duplizieren und dann wäre… ja… dann hätten wir einen Weltenretter, der all die Gescheiterten vor ihm ersetzen könnte. Gestern und heute aber war und ist alles großer Mist. Die „Ideologien“ seien schuld, politische Strömungen verantwortlich, die „Linken“ und „die Konservativen“ hätten gleichermaßen versagt, die heutigen Lehrer seien unterqualifiziert oder gar durch und durch allesamt schizophren.

Was sie alle, die Lehrer in Sußebachs Text und die Kommentatoren, auf ihrer Suche nach dem Weltenretter übersehen, ist: die Vielfalt. Wir werden den einen Lehrer niemals finden, kein Sokrates wird uns retten, kein Rousseau uns erlösen. Kein Michelangelo wird unsere Kinder aus grobem Stein fein herausmeißeln und kein noch so geschickter Gärtner ihnen die wilden Triebe stutzen. Denn wir brauchen sie alle: Die Steinmetze und die Gärtner, die Folienaufleger und die Internetversessenen, die Feingliedrigen und die Grobschlächtigen, die Langweiligen und die Ausgeflippten; solange sie den Kindern nutzen, Reibungsfläche bieten, Interesse wecken, Widerstand hervorrufen, Lehrreiches bieten. Nicht wäre langweiliger als drei Dutzend geklonte Lehrer Dr. Spechts, Ms. Johnsons oder Mister Keatings in den Schulen hocken zu haben.

Sußebach gibt in seinem Fazit die Antwort. Die bunte Mischung ist ausschlaggebend und darum kann er auch Gewinner ausmachen:

Und es gab Gewinner, vor allem unter uns Schülern, die von all den Linken und Rechten, den Besorgten und Unbesorgten vorn an der Tafel mehr fürs Leben gelernt haben, als das unter einem grauen Heer gleichgültiger Lehrer der Fall gewesen wäre. (ebd.)

Es ist tröstlich, dass ehemalige Schüler aus unterschiedlichen Generationen so offen den Nutzen ihrer Schulen beschreiben. Und ein schöner publizistischer Jahresabschluss. Ich wünsche allen Lesern schon einmal im Voraus ein frohes neues Jahr!