Das eigene Tempo

Der Unterricht der Zukunft“ lautet der Titel eines aktuellen FAZ-Artikels, in welchem die Autorin die potentiellen Segnungen des digitalen Unterrichts beschreibt. Im Kern wiederholt sie die alte Leier vom Lehrer, der als „Kurator“ seinen Schülerinnen beisteht. In Deutschland lerne man ja noch „im Akkord“ und „gleichgeschaltet“. Ich spare mir jetzt böse Anmerkungen zu den in Anführungszeichen markierten Begriffen und bleibe beim Thema „eigenes Tempo“.

Habe gerade eine Reihe hinter mir, in der ich als „Kurator“ für Wortarten tätig war und die Schülerinnen überwiegend im eigenen Tempo habe lernen und üben lassen. Mit Checklisten, Selbstüberprüfung und abgestuften Aufgabentypen und eigenem Tempo, aber auch mit instruktiven Phasen. Zugute kommt diese Arbeitsweise jedoch eher den Schülerinnen, die sowieso schon in der Lage sind, eigenständig zu arbeiten, schulischen Ehrgeiz zeigen, darüber hinaus den Mut haben, Fragen zu stellen und die zügig arbeiten können. Allen anderen fällt das „eigene Tempo“ eher auf die Füße als dass es hilft, solange wir alle bis zu einem Zeitpunkt X alle Klassenarbeiten geschrieben haben müssen. Denn bei der Zeugniskonferenz akzeptiert niemand, wenn ich sage, dass leider die Noten von zehn Schülerinnen noch fehlen, weil sie noch in Ruhe die Zeitformen des Verbs erarbeiten wollen oder weil eine Schülerin extrem getrödelt hat. Mit Deadlines zur Leistungsüberprüfung bleibt „Lernen im eigenen Tempo“ eine Farce.

Oder wie löst ihr das?

7 Gedanken zu „Das eigene Tempo

  1. Wie so oft liegt die Wahrheit wohl in der Mitte… Ich kenne genau die von Dir geschilderte Problematik. Die Grundbedingungen, nämlich Arbeits- und Organisationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler muss vorhanden sein, sonst klappt es gar nicht. Aber man braucht wohl auch viel Luft nach oben zum Differenzieren, wenn es von allen zeitlich schaffbar sein soll, aber für die schnellen noch genügend Anreize enthalten muss.

    Die Frage der Bewertung bei unterschiedlichen Lern- und Arbeitsgeschwindigkeiten bleibt dabei bestehen.

  2. Eine Lösung habe ich jetzt auch nicht, aber eine Idee, die – zumindest in meinem Unterricht – funktioniert:

    Die Checkliste kann man als „Lernstufenliste“ (was du wohl über diesen in Anführungszeichen gesetzten Begriff denkst?) im Klassenraum aushängen.

    Die Schüler können sich nach der Bearbeitung (und ggf. Testung) bestimmter Aufgaben hier eintragen oder abhaken.

    Wenn es nun eine Lernstufenliste mit z.B. 10 Stufen gibt, schreibe ich die Arbeit, wenn alle Schüler die 6. Stufe erreicht haben. Alles bis dahin zu Lernende ist dann auch Bestandteil der Arbeit und entspricht dem, was ich als Lernziel für diese Einheit habe.

    Der Clou: Zum Zeitpunkt der Arbeit, wenn also der letzte Schüler Stufe 6 abgehakt hat, können andere schon auf der 9. oder sogar 10. Stufe arbeiten.

    Niemand muss „hungern“, niemand wird zum Zeitpunkt der Arbeit überfordert.

    Die Schwieirgkeit ist das Zusammenspiel eines ja irgendwann erforderlichen Termins und dem Fortschritt der Schüler. Damit sich nicht alle fröhlich zurücklehnen und Stufe 6 nie erreichen, um keine Arbeit schreiben zu müssen, gebe ich zumindest einen groben kalendarischen Zeitraum für die Arbeit vor.

    Ist also nicht zu 100% individualisiert, ermöglicht aber, hin und wieder nur „Kurator“ zu sein. (Noch schöner: „Lernbegleiter“)

     

    By the way: Eine 11.-Klässlerin hat bei einem solchen Unterricht übrigens mal zu mir gesagt: „Frau P., wir kommen doch in die Schule, um von Ihnen etwas zu lernen. So kann ich das ja auch zuhause.“

    Tja…

    • Das klingt ja wirklich mal wert, ausprobiert zu werden, wenn man ein Thema denn so schön in „Lernstufen“ einteilen kann.

      Und wenn du nach meiner Meinung zu dem Begriff fragst, dann fällt mir als Erstes auf, dass er impliziert, dass es Stufen, also eine hierarchische Ordnung des Wissens gibt. Habe da gerade „Wortarten“ oder „Satzglieder“ vor Augen (das kann man so schön systematisieren) und da würde ich eher einen Begriff, der sich in Richtung „Lernmodul“ oder so bewegt, wählen.

      Wie auch immer: Die Idee dahinter gefällt mir wirklich gut; werde ich wohl mal ausprobieren!

      (Und was die 11-Klässlerin sagte, stimmt ja; aber leider nicht für alle…)

  3. Das „im eigenen Tempo“ ist ja auch Unfug. Denn in Wirklichkeit lernt sowieso jeder „im eigenen Tempo“, in einem anderen kann er ja gar nicht. 😉 Es gibt da also gar nichts zu wählen im Sinne, „ich möchte nicht schnell/langsam“. Wenn es darum geht, etwas zu verstehen, dann „klingelt“ es bei unterschiedlichen Leuten nur darum zu unterschiedlichen Zeiten, weil sie die erforderlichen Gedanken(gänge) unterschiedlich manchmal explizit zum ersten Mal machen, manchmal implizit und schon automatisiert haben. ZB brauche ich nicht mehr alle notwendigen Gedanken noch einmal nachvollziehen und neu verstehen, wenn ich Übung im Denken zu diesem Gegenstand habe. Ich habe 99% davon schon internalisiert (in früherem Lernen!), und muss nur noch den 1 zusätzlichen „Schritt“ machen. Ein anderer, der weniger Übung hat, fängt bei … an und muss noch ganz vieke Gedanken zum ersten Mal denken (= verstehen). Trotzdem sind in dem Gegenstand alle diese 100 % enthalten, auch, wenn sie beim „advanced“ nicht mehr ausgesprochen/explizit gedacht werden müssen.
    Nun zur Zeit: Wenn man mehr Zeit hat, weiß man ja trotzdem noch lange nicht, welche Gedanken man noch verstehen/selbst denken muss, um zum „Ergebnis“ zu kommen. Von selbst bringt also „langsameres Tempo“ überhaupt nichts, nur mit Anleitung.

    • Danke für deine präzisen Gedanken, Lisa. Zum Tempo gehört natürlich noch so etwas wie momentane Motivation, Organisation oder Konzentrationsfähigkeit.

      Wie auch immer man es wendet: Ein „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ á la „Im eigenen Tempo bis zum Notenschluss“ spiegelt das Paradox der Schulpolitik, möglichst menschenfreundlich und pädagogisch dastehen zu wollen, aber gleichzeitig junge Menschen auf das „echte Leben“ (alias Ellbogen in einer freien Wirtschaft) vorbereiten zu wollen.

  4. Danke Lisa für das bemerkenswerte Statement zu „im eigenen Tempo“. So habe ich das noch gar nicht betrachtet – obwohl es offensichtlich scheint.

    Zum Thema Leistungsüberprüfung:

    Meine Frau lässt als Lehrerin an einer Grundschule (Unterricht ist jahrgangsübergreifend und mit Arbeitsplänen organisiert) die Kinder immer an einer bestimmten Stufe den Test schreiben. Um in Paulas Beispiel zu bleiben: jeder Lerner schreibt die Klassenarbeit, wenn er die Stufe 6 erreicht hat. Der Zeitpunkt spielt dabei keine Rolle.

    Diese konsequente Fortführung des individuellen Tempos auch in der Testphase finde ich sehr konsequent und charmant. Jeder absolviert ja auch dann die Fahrprüfung, wenn er denkt, er hätte die notwendigen Qualifikationen dazu erreicht.

    Ja, natürlich kann man nicht 27 Klausuren für 27 Individuen stellen. Aber ich denke, dass 5 ausreichen dürften. Es käme mal auf einen Versuch an … (nur: wer traut sich).

    • Ja, Lisa analysiert immer messerscharf.  🙂

      Ich habe mal einen Kollegen an einem Gymnasium in Bayern kennengelernt, der davon sprach, dass er Klassenarbeiten zu einer vom Schüler selbstbestimmten Zeit schreiben lassen möchte. Vielleicht sollte ich dem einfach mal mailen, wie der das so handhabt und ob er das (noch) so macht.

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