Kariert gucken

„Du guckst so kariert.“, stand im Hanni-und-Nanni-Band, den ich zufällig aus einer langen Reihe Enid-Blyton-Bände in unserem kleinen Ferienhaus herausgezogen hatte. Erst kürzlich hatte eine Schülerin nach genau dieser Redewendung gefragt. Das sagt man heute eher nicht mehr, kariert gucken.

Ich mochte Enid Blytons Bücher sehr und habe viele Bände aus allen möglichen Reihen von ihr angelesen. Die Abenteuer-Reihe, die Rätsel-Reihe, Fünf Freunde natürlich, Hanni und Nanni, Dolly und sogar in Tina und Tini habe ich reingelesen. Vieles ähnelte sich, manches wurde als „Mädchen-Bücher“ abgetan, aber das hat niemanden, den ich kenne und der gerne gelesen hat, ernsthaft interessiert. Ich kenne einige Jungs, die gerne Dolly gelesen haben, und keiner konnte sich dem Charme der tollen Hanni-und-Nanni-Mitternachtspartys mit Ölsardinen und Kondensmilch entziehen.

Geschlechterzuordnungen

Heute wird die richtige Geschlechtszuordnung jedoch schon im Buchhandel durch Farbcodes erledigt: Rosarote Einbände für die Mädchen, blaue und schwarze für die Jungs; Glitzerapplikationen auf den Buchdeckeln hier, 3D-Effekte dort; Pferdegesichter glotzen auf der einen, Fußballmotive auf der anderen Seite. Bloß nichts Falsches für das lesen lernende Kind,bloß keine falsche Prägung, bloß nichts Geschlechtsuntypisches in unserer ansonsten flächendeckend aufgeklärten westlichen Welt, in der man doch so sehr vorgibt, auf die Gleichbehandlung der Geschlechter zu achten. Schaut man sich neuere Hanni und Nanni-Auflagen an, dann kann’s mehr rosa gar nicht werden und im Klappentext faselt’s im besten Bravo-Sprech von „Zicken“ und „süßen Boys“. Alles fein zurechtgemacht für die vermeintliche Zielgruppe.

Der Fluch der Altersvorgabe

Nebenbei scheint es sich auch durchzusetzen, dass Bücher eine Altersempfehlung verpasst bekommen. Empfohlen ab 6. Für Leseratten ab 9. Örch.
Bei Beachtung dieser unsinnigen Angaben für unsichere Käufer passt man nicht die Literatur den Kindern an, sondern versagt es den Kinder, Literatur selbst einschätzen zu lernen.
Ordnet man sich diesen Empfehlungen unter, dürften sich  den Kindern kaum sprachliche und emotionale Herausforderungen stellen. Wen wundert’s, dass Lesen dann langweilig und vorhersehbar wird und dass der Wortschatz von Kindern immer weiter sinkt? Wie ein Grizzly einen armen Landvermesser ausweidet, das erliest man gewiss nicht in der handverlesen Kinderliteratur, und eine unmoderne Wendung wie „kariert gucken“ dürfte den jugendlichen Leser des 21. Jahrhunderts bei der Lektüre des zielgruppenorientierten Materials ebenso wenig irritieren wie ein ungewohnter, die Konzentration fordernder Satzbau.
Ist die furchtbare Medusa, sind die Qualen griechischer Sagengestalten, gefressene Märchen-Großmütter, Knochenmühlen am Koselbruch oder blutige Volkssagen für Kindergemüter so unerträglich, dass wir sie in Altersvorgaben einhegen müssen? Müssen denn alle Geschichten zunächst disney-überzuckert werden, damit sie „ab 10“ gelesen werden dürfen?

Gewöhnungseffekt?

Überdies gewöhnen sich die Kinder daran. Bei Buchvorstellungen wird häufig nachgefragt, ab welchem Alter und vor allem: ob für Mädchen oder Jungen? Besonders die Jungs wollen Mädchenbücher vermeiden, wenn ein Mädchen Bücher mit männlichen Protagonisten wie „Tom Sawyer“ oder „Harry Potter“ vorstellt, ist das in der Regel kein Aufreger. Ich „oute“ mich dann gerne als ehemaliger „Hanni und Nanni“-Leser – aber ob es hilft, gegen die rosarot-blauschwarz gefärbten Windmühlen der Marketingstrategen anzukämpfen, das wage ich zu bezweifeln.

Die sind dann doch mächtiger, als man  zu glauben bereit ist: Als vor einigen Monaten eine durchaus meinungsstarke Bekannte mit einer Tüte voller rosa Bauklötze für unsere Jüngste bei uns auftauchte, die sie fein säuberlich aussortiert hatte, weil ihre Jungs nicht mit Mädchenfarben spielen sollen, da habe ich dann wohl etwas kariert geguckt.

5 Gedanken zu „Kariert gucken

  1. Ich bin auch ein großer Enid Blyton-Fan und liebe Hanni und Nanni! Allerdings bevorzuge ich auch die alten Geschichten. Die Filme haben ja außer die Namen eigentlich nichts mit den Büchern gleich. Und diese pinken Bücher sind nur die Bücher zum Film. Die anderen sind nicht so schrecklich.

  2. Enid Blyton: Habe ich auch gelesen, aber nur das Jungszeug. Das war vor der Zeit, als ich in die Bibliothek ging, die Bücher waren alle Geschenke, und da war nie Hanni oder Nanni dabei. Wer die alten Bücher noch quasi wie im Museum sehen will: Lesebibliotheken in Schulen müssten eigentlich voll damit sein. Ich habe zwar nie nach Enid Blyton geschaut (am Ende war die pädagogisch verpönt, wie alles lesbare?), aber alte, alte, sehr alte Bücher gibt es bei uns zuhauf.

  3. Bei uns waren eigentlich nur Comics verpönt; was das Lesen anging, war (fast) alles gern gesehen. Ich müsste in unserer Schulbibliothek mal nachschauen, ich kann mich nicht an Blyton-Bände erinnern, es würde mich aber wundern, wenn da keine ständen. Bei den Jungs sind „Die drei ???“ gerade der große Renner (zu denen man als Mädchen-Alternative irgendwann „Die drei !!!“ erfunden hat. Natürlich mit viel Pink).

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