Hilfe! Inklusion!

Woah, die einführende Fortbildung zum Thema „Inklusion“ war heute eine Menge, das muss ich erst einmal verarbeiten. Mit viel Optimismus bin ich in diese Fortbildung hineingegangen und sitze nun mehr als desillusioniert vor meinem Laptop. Dabei hatte ich im Halbtagsblog schon so viel Gutes über die Inklusion gelesen, und eigene Erfahrungen aus meiner Oberstufenzeit sowie aus meiner Steinzeit-AG haben mir Inklusion sehr positiv vor Augen geführt. Bis heute hatte ich aber immer Kinder mit eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten vor Augen, die kognitiv durchaus in der Lage sind, einem gymnasialen Unterricht zu folgen. Doch dem wird nicht so sein.

ESE- und L-Kinder

Ich bin mit der Sonderpädagogik-Fachterminologie noch kein Stück vertraut, habe aber so viel verstanden, dass insbesondere sogenannte „ESE-“ und „L-Kinder“ zu uns kommen werden. „ESE“ steht für „Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung“, ergo (sorry, wenn ich das gerade durch eine sehr schmale Brille sehe) Kinder, die Schwierigkeiten haben, ihr Verhalten und ihre Gefühle zu kontrollieren. Das L in „L-Kinder“ steht für Lernschwierigkeiten. Diese Kinder haben so große Probleme beim Lernen, dass ihnen schon die Grundschule Schwierigkeiten bereitete. Dass man ausgerechnet die nun aufs Gymnasium schickt, beweist, dass die größten Zyniker nicht unter den Philosophen, sondern im nordrheinwestfälischen Bildungsministerium zu finden sind.

Weitere Erkenntnis: Die Klassenstärke (aktuell hat meine Klasse 31 Kinder) soll offensichtlich nicht wesentlich herabgesetzt werden. Nett wäre auch, so der fortbildende Förderschulkollege, wenn die Inklusionskinder gruppenweise gebündelt würden, damit sie ein Gruppengefühl entwickeln könnten.1 Sollte es so kommen, dann dürften sich einige Klassenlehrer also nicht nur über die drei Hannebummel freuen, die man sowieso in jeder Klasse hat, sie hätten unter Umständen obendrein noch gleich eine Hand voll ESE-Kinder zu bändigen.

Zieldifferent

Nun, dass wir an unser Gymnasium Inklusionsschüler bekommen würden, die wir auch „zieldifferent“ unterrichten werden, das war schon klar. „Zieldifferent“ bedeutet, dass es von vornherein nicht das Ziel ist, dass die Kinder am Gymnasium ein Abitur anstreben. Kein Problem, auch im normalen Regelbetrieb schaffen nicht alle Kinder es bis zum Abitur, das kennen wir bereits. Dass die „Zieldifferenz“ aber derart weit entfernt vom gymnasialen Standard liegen würde, wie es uns der Förderschulkollege schilderte, das hätten wir uns wohl nicht ausgemalt.

„Ein Förderplan in Klasse 5 könnte z. B. darin bestehen, dass ein Kind den Zahlenraum im Schuljahr auf 100 erweitert.“ Die entsetzten Mathekollegen mussten ihre aufgerissenen Augen vom Tisch klauben, denn das steht nun wirklich nicht im aktuellen Lehrplan. „Viele Kinder bekommen bei uns gar keinen Abschluss. Auch der Hauptschulabschluss ist da unerreichbar.“

Das Ende vom Lied scheint mir nun zu sein, dass Inklusion in NRW wie folgt aussieht: Die zu inkludierenden Schüler werden in irgendwelche Klassen gesteckt, arbeiten ihre persönlichen Förderpläne ab (wenn überhaupt, wenn man den Ausführungen des Förderschulkollegen glauben darf) und wir sind die Deppen, die neben dem gymnasialen Unterricht noch eine zweite bis dritte Unterrichtsvorbereitung aus dem Hut zaubern dürfen, je nachdem, wieviele zieldifferente Kinder man denn in einer Klasse hat. Großartig. Das wird natürlich keinesfalls ausgrenzend wirken, wenn manche Kinder das Bruchrechnen erlernen, während andere zeitgleich den Zahlenbereich bis 100 erproben.

Inklusives Classroommanagement

Besonders für Kinder mit emotional-sozialem Förderschwerpunkt sollte ein Klassenraum reizarm gestaltet sein. Eine Reizüberflutung sollte vermieden werden. (Versucht mal, eine Reizüberflutung zu vermeiden, wenn da noch 25 lebhafte andere Kinder sitzen, die sich ja auch gerne mal ablenken!)2 Laufwege zu Materialien müssten gegebenenfalls mit den Kindern abgesprochen werden, um Konflikte und Störungen zu vermeiden. Tische sollten so stehen, dass alle SuS jederzeit gesehen werden können, „Allgegenwärtigkeit“ war überhaupt das Schlagwort des heutigen Tages. Überwachung ein anderes. Bloß nicht zur Tafel drehen! Keine Pointe.
Sinngemäß fiel auch folgender Satz: „Das Sitzen am Tisch müssen Sie mit den Kindern zum Teil erst einüben. Dafür wird einiges an Zeit draufgehen.“ Meine Kinnlade fand den Boden nicht mehr.

Dazu hübsche Fotos aus einer der nun bald aufgelösten Förderschulen: Teppichboden, hohe Fenster, hübsche Räume mit ausreichend Platz für Materialboxen und ganze sechs Tische pro Klasse. Bilder einer Schule, in der Lehrer bis zu 20 Stunden pro Woche mit derselben Lerngruppe verbringen und gefühlt zwanzig Tafeln mit sozialem und organisatorischem Budenzauber aufbauen können. „Für jede positive Verhaltensweise stecken sie einfach ein blaues Kärtchen neben den Namen an die Pinnwand, falls sich jemand daneben benimmt…“ Aber ich habe da nicht nur sechs Namen, sondern über fünfundzwanzig und nein, ich belohne pünktliches Erscheinen zum Unterricht nicht mit einem blauen Kärtchen!

Vorläufiges Fazit

Nachdem wir nun als Schule gerade das G8 verpackt, die QA verarbeitet und den Ganztag endlich bis in Klasse 9 hochgezogen haben – und das alles gleichzeitig –  beglückt man uns mit der Inklusion. Allem Bisherigen konnte ich bislang schon im Vorfeld Positives abgewinnen, doch diese Form von „Inklusion“ scheint mir ein pädagogisches Selbstmordkommando zu sein. Vielleicht verschätze ich mich ja jetzt aufs Schlimmste (wollen wir’s hoffen), aber wenn Inklusion nichts weiter bedeutet, als dass ich mich ohne ausreichende Ausbildung und mit miserablen Ressourcen nun als billige Sonderpädagogikaushilfskraft verdingen soll, dann werde ich auf Dauer meine Konsequenzen ziehen und meine Prioritäten überdenken müssen.
Sehr gespannt bin ich auch auf die Reaktionen der Eltern. Wir haben als Schule durchaus schon Erfahrung mit verhaltensauffälligen Kindern gemacht; die Eltern der anderen Kinder werden mit den Füßen abstimmen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Kind zurückzustecken hat.

Man merkt’s wohl: Ich bin nicht im Geringsten begeistert von der Inklusion, wie sie mir heute präsentiert wurde, und ich habe zum ersten Mal in meinem Berufsleben „den Kanal voll“. Weitere Fortbildungen stehen an. Ich bin sehr gespannt, wie’s weitergeht. Angeblich wird ja nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.


  1. Nicht, dass sich das mit dem großen Ziel der In(!)-klusion beißen würde… 
  2. Der neueste Schrei sind Textmarker, die aussehen wie Kosmetiktübchen… 

36 Gedanken zu „Hilfe! Inklusion!

  1. Danke für diesen Text! Das ist ein sehr guter Einblick in die Ängste und Zweifel einer betreffenden Schule.
    Ich komme von der anderen Seite – als Förderschullehrerin muss ich damit rechen, demnächst Klassen wie Deine per Abordnung zu unterstützen und Euch Kollegen der „Regelschule“ inklusionistische Ratschläge geben. Aber aus welchem Hut sollen wir uns die zaubern, wenn wir selbst keine Ahnung haben, wie überrumpelte Schulen damit umgehen sollen? Ich möchte mit Dir/ Euch nicht tauschen und ziehe meinen Hut vor jedem, der nicht die Sachen packt und geht.
    Eine ganz ganz schwierige Entscheidung wurde da an oberer Stelle getroffen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gut anläuft.

  2. Vielen Dank für deine klaren Worte! Ein paar Anmerkungen habe ich noch:
    1. Die Zyniker sitzen nicht nur im KM, sondern befinden sich unter den Erziehungsberechtigten, die ihre Kindern unbedingt aufs Gymnasium bringen wollen. Die Alternativen sind Gesamtschulen/Oberschulen/Haupt-Realschulen oder weit entferntere Förderschulen (die dann wohl überlaufen sind).
    2. Überfordert werden dann alle sein, sowohl die Nicht-Förderlehrer, die eine Kleinstzusatzrundumausbildung erhalten haben (wenn überhaupt) und dann nicht wissen, was sie tun, als auch die Förderlehrer, die durchs Land fahren und spontan sich auf sechs (Zahl ist aus der Luft gegriffen) verschiedene Kinder für ein oder zwei Stunden am Tag einstellen müssen, statt vor Ort alle Materialien und eine konstante Gruppe vorzufinden. Aber vor allem leiden die Förderkinder, die von den Leistungen her weit hinterherhinken oder auf völlig überforderte Lehrer treffen, die ihnen nicht (mehr) genug Aufmerksamkeit geben können.

  3. Das ist ja verrückt! Und wie reagieren die Lehrer an deiner Schule, in deiner Region, im Bundesland? Hier sieht es auch ziemlich schlimm aus mit der sogenannten I. Ich hatte dazu während der Vorbereitungsphase mal folgende prezi gemacht: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2014/03/05/a0101&cHash=82a79b9c1e4d3fb01775de88a5d993cd
    Alle Beteiligten in den Schulen und Elternhäusern ächzen. Alle Expertise wird ignoriert oder zurückgewiesen. Das Klassenraum-Unterrichts-Modell wird an die Grenze des Absurden gebracht: Alles soll wie gehabt laufen (standardisiert, selektiv, selten) aber bitte ganz anders (individualisiert, inklusiv, immer). Mach mir das 19. Jahrhundert, aber bitte so, dass es wie 21. Jh. aussieht.

  4. Den Grundgedanken von Inklusion kann ich verstehen und befürworten. Was uns aber alles als Inklusion „zugemutet“ wird, ruft zu Recht Empörung bei vielen Kollegen unterschiedlichster Schulformen hervor.
    Ich gehe seit einigen Jahren einen Weg zur Veränderung meines Unterrichtes in Richtung Teilselbststeuerung meiner Schüler. Diese Veränderung war notwendig, da Schülergruppen auch ohne ausgewiesene Förderbedarfskinder sehr heterogen sind und nicht alle das Gleiche lernen, wenn alle das Gleiche tun. Diese veränderte pädagogische Arbeit ist für mich sehr hilfreich im Hinblick auf Integration (die an den Grundschulen schon oft stattfindet) und Inklusion.
    Die Veränderung der Lehrtätigkeit in Richtung Lernorganisator / Lernbegleiter ist aber nur ein kleiner Baustein für den Aufbau einer inklusiven Schule. Wir befürchten auch in den Grundschulen, dass mangelhafte personelle und sächliche Ressourcen uns daran hindern werden, jedes Kind – ob mit oder ohne Förderschwerpunkt – angemessen beim Lernen unterstützen zu können.
    Wenn ich mir dann vorstelle, welchen Anspruch wir an das Lernen der Kinder am Gymnasium haben, verstehe ich dein Entsetzen über die Informationen, die du in der Fortbildung erhalten hast und werde jetzt gleich ganz provokant: Wenn sowieso alle Kinder in jede gewünschte Schule gehen dürfen, dann wäre es konsequent, das Separieren nach der Grundschule abzuschaffen. Soll das letztendlich darauf hinauslaufen? Das kann ich mir genauso wenig vorstellen, wie ich mir Kinder mit Förderschwerpunkt Lernen am Gymnasium vorstellen kann.

    • Einige verstehen das durchaus so: Als indirekte Abschaffung des Gymnasiums.

      Die Lehrerrolle zu verändern ist durchaus sinnvoll und auch an den Gymnasien arbeiten wir daran. Aber in einigen Situationen werden wir frontale Phasen brauchen: Z.B. bei der Auswertung und Einordnung von Quellen in Geschichte; beim Besprechen von Übungsaufgaben vor Klassenarbeiten oder wenn Schüler Ergebnisse vorstellen. Was mache ich dann mit Kindern, die unter Umständen dabei sitzen, aber nichts beitragen und im schlimmsten Fall nicht einmal etwas verstehen können?

      Wie löst ihr das denn an den Grundschulen? Bei euch ist die Heterogenität der Lerngruppen ja letztlich größer als an allen anderen Schulen.

    • Ich löse dies zum Teil so, dass ich einen Teil der Kinder an ihren Aufgaben arbeiten lasse (teilselbstgesteuert durch Lernpläne) und mit dem Rest der Gruppe spezielle Inhalte thematisiere.
      Da an meiner Schule noch keine „richtige“ Inklusion stattfindet, kann ich auch weiterhin bestimmte frontale Phasen für alle organisieren, mit dem Wissen, dass bei bestimmten Kindern dann nur das Dabeisein zählt und zu diesem Zeitpunkt eher kein Lernzuwachs zu erwarten ist.

      Manche Kinder bekommen auch Einzeleinführungen und individuelle Gespräche zur Ergebnissicherung, während die Klasse an den Plänen arbeitet. Das sind dann oft die Kinder, die sehr weit voran sind oder deutlich langsamer lernen.

      Im Ideal von Inklusion sollten Kinder mit sehr speziellen Bedürfnissen auch einmal den Klassenverband verlassen und mit dem Sonderpädagogen oder Einzelfallhelfer Übungen in „Lebenstüchtigkeit“ durchführen – einkaufen, kochen, werkeln, …. was auch immer das einzelne Kind benötigt. Kinder mit großem Förderbedarf können nicht 5 oder 6 Stunden Fachunterricht bewältigen – egal wie differenziert man diesen organisiert. Für sie sind zum Teil sehr spezielle Angebote wichtig, die nicht vom Klassen- oder Fachlehrer durchgeführt werden können.

  5. Vielen Dank für eure Rückmeldungen!

    Ich habe gestern nach der Veröffentlichung des Beitrags wirklich kurz gezweifelt, ob ich da jetzt den Riss in der Matrix habe, oder ob da irgendwas grundlegend schief läuft.

    @Jan
    Das zielgleiche Arbeiten kenne ich, und es läuft – mit Hilfsmitteln und kleinen Einschränkungen (wir haben keine Rollstuhlkinder) – tadellos.

    @Hilliknixibix
    Danke für die Erweiterung durch deine Perspektive als Förderschullehrerin. Die Entscheidung, die man da getroffen hat, war – soweit ich das jetzt beurteilen kann – sehr sehr schlecht. Selbst unter den für die Inklusion offenen/interessierten Kollegen kommt nun nichts Optimistisches mehr. Ich werde mir sehr genau anschauen, wie das laufen wird, wie man mit uns kommunizieren wird usw. Aktuell ist das eine Katastrophe! So gibt es Fortbildungen, aber dezidiert nicht für Gymnasiallehrer! Die können doch schon alles, oder wie? Da packste dir an‘ Kopp!

    @ixsi
    Wenn ich das recht verstanden habe, so haben auch die Eltern da nur begrenzte Einflussmöglichkeiten; die Vergabe scheint eher nach Kapazitäten zu funktionieren. Und wenn da am Gymmi noch ein paar Plätzchen frei sind, dann werden da eben Kinder hingeschickt. Punkt.

    @Lisa
    Danke für die schöne Prezi! Ich habe sie noch nicht ganz durch, aber sie spricht mir bislang sehr aus dem Herzen! Bei uns hat man sich offensichtlich für den schlechten Weg entschieden, dein letzter Satz oben trifft es ganz genau. Eine Kollegin fragte gestern entgeistert, wie sie denn den geforderten offenen Unterricht umsetzen solle, wenn sie gleichzeitig reizarm, mit festen Laufwegen usw. unterrichten solle. Das ist alles auf so vielen Ebenen unglaublich.
    Von Lehrerseite hört man noch nicht viel; es setzen ja auch nicht alle Schulen die Inklusion um.

  6. Das ist ja ’n Ding! Und ich dachte immer, dass vorrangig wir Grundschultanten inkludieren sollen/müssen/dürfen.
    Es ist mir wirklich unbegreiflich, wie man an einem Gymnasium (!) L-Schüler unterrichten bzw. unterstützen soll/kann.
    Als Lehrkraft, die schon mal an einer Inklusionsgrundschule tätig war, frag ich mich: Wer glaubt denn wirklich ernsthaft, dass das funktioniert? Wenn’s ja schon in der Grundschule schwierig ist? Und wir hier doch noch relative „Freiheiten“ haben was z.B. Stundentakt, Rhythmisierung oder Zieldifferenz angeht?
    Ich kenn mich in NRW nicht aus, aber brauchen Grundschüler auch einen bestimmten Notendurchschnitt, um dort aufs Gymnasium zu kommen? Auch die Inklusionsschüler?
    Ich musste grad echt laut auflachen, als ich deinen Artikel gelesen habe. Un-glaub-lich.

    • Ich find’s zum heulen. Es gibt hier übrigens keinen Notendurchschnitt, der geschafft werden muss, nur eine Grundschulempfehlung. Für die Inklusionsschüler ist die aber sowieso unerheblich: Die dürfen auch ohne Empfehlung aufs Gymnasium.

    • Dann kann man nur hoffen, dass es viele vernünftige Eltern gibt, die ihr Kind mit sozial-emotionalen oder Lernschwierigkeiten nicht auf eine Schulart schicken, die (ich sag das mal so salopp) mehr auf Selektierung statt auf Inklusion ausgerichtet ist.

  7. Aber was tun diese Eltern, wenn die anderen Förderplätze schon belegt sind? Und was werden die Eltern der anderen Kinder unternehmen? Ich prophezeie, dass es dazu noch hässliche Auseinandersetzungen geben wird.

  8. Ja! Hoffentlich wird von Elternseite so richtig protestiert! Aber nicht auf Kosten der Lehrer, die zu etwas gezwungen werden, was sie unter den Bedingungen nicht leisten können. Aber ob das zu einer Konzeptänderung oder zu einer realistischen Einschätzung von „oben“ führen kann? An meiner alten Schule lief ziemlich viel schief (zu wenig Förderschulstunden als rechtlich vorhesehen bekommen, fehlende Räume, kein Ersatz für erkrankte Förderlehrerin bekommen) und obwohl das Schulamt das wusste…., naja. Ich fühlte mich da sehr hilflos. Es wäre einfach wichtig, dass das alles nicht so schön und einfach geredet bzw. Probleme ignoriert werden, sondern eingesehen wird, dass unser Schulsystem und die Lehrer mit ihrer Ausbildung das so im Moment nicht schaffen KÖNNEN. Und da hilft auch leider keine Fortbildung.

    • Die Eltern sehen das vermutlich sehr realistisch. Aber das kann’s doch nicht sein, dass nicht einmal die rechtlichen Bestimmungen eingehalten werden. Es ist unglaublich, dass Schulen so hängengelassen werden. Wenn man das hinzubezieht, was TwoedgedWord oben verlinkt hat, dann läuft es mir kalt den Rücken hinunter…

  9. Ich bin als Sonderpädagogin an allgemeinen Schulen unterwegs um hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler und die Kolleginnen und Kollegen dort zu unterstützen und zu beraten. Hier erlebe ich auch viel Positives und wirklich Erfreuliches, aber aktuell leider auch einiges, was mich frustriert.
    Von den raumakustischen Schwierigkeiten ganz zu schweigen (Lehrerraumprinzip = Katastrophe für SuS mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation, aber keine Bereitschaft der Schule dies zu überdenken), stelle ich immer wieder fest, dass es Kolleginnen oder Kollegen gibt, die nicht beraten werden möchten, weil sie der Ansicht sind, dass das Kind dank der Hörgeräte ja schließlich hören könne und alles in bester Ordnung sei. Durch meine Anwesenheit und fühlen sie sich kontrolliert und verunsichert anstatt unterstützt. Ich biete Fortbildungsveranstaltungen an den Schulen an: Kaum einer kommt. Ich signalisiere Gesprächsbereitschaft im Lehrerzimmer – und werde ignoriert. Ich biete gezielte, sachliche Hilfen via Email an – und werde als „respektlos“, „belehrend“ oder „unprofessionell“ beschimpft. Das zeigt mir, wie lange es noch dauern dürfte, bis Inklusion auch in den Köpfen angekommen ist.

    • Wir haben schon einen Schüler, der ebenfalls den Schwerpunkt Hören und Kommunikation hat, aber da läuft alles reibungslos, soweit ich das mitbekomme (ich bin in der Klasse nicht eingesetzt). Der Klassenraum wurde extra umgebaut. Den von dir geschilderten Frust der Sonderpädagogen kann man auch bei Lehrerforen.de nachvollziehen; vielleicht liegt es daran, dass beide Seiten vorher nicht wirklich klären, wer was wann wie macht, sich wofür zuständig fühlen darf/soll und jede Kommunikation noch eine zusätzliche zeitliche Belastung darstellt. Das macht es nicht einfacher. Bin sehr gespannt, wie sich das bei uns entwickeln wird.

    • Liebe Kreideweiss,

      danke für deinen Einblick, der mich aus einer anderen Erfahrung heraus, nicht erstaunt.

      Hier bei uns, an einem Münchner Gymnasium, das sprachlich ausgerichtet, mit einem extrem kleinen Ausländeranteil und einer sehr bildungsbürgerlichen Klientel, sollte schlicht, aber durchgängig, die rhythmisierte Doppelstunde eingeführt werden.
      Das wünschten sich die Eltern! Was im Kollegium als äusserst anstössig aufgenommen wurde.
      Dieses „Experiment“ kann als gescheitert betrachtet werden, weil das Kollegium schon davon überfordert waren, ein didaktisch sinnvolles Doppelstundenprinzip bei sehr normalen und intakten Kindern, umzusetzen.
      Vor allem diejenigen im Kollegium, von denen bekannt ist, dass sie regelmässig schon mit der normalen Einzelstunde überfordert sind, die möglichst ohne Rückmeldung im Klassenzimmer agieren und mit pubertierenden Klassen meist komplett versagen, können und wollen dies nicht.
      Wenn hier in Bayern die Inklusion am Gymnasium kommen sollte, dann wird das Chaos komplett, wie man gut am gescheiterten G8 sehen kann.
      Wer wie unser Kollegium selektiv sozialisiert wurde und denkt, kann diesen Inklusionstransfer vermutlich kaum leisten. Diese KuK sind vermutlich weder gymnasialfähig, noch fähig eine Inklusion zu managen.

    • Ich bin, nebenbei bemerkt, sehr froh über das bei uns eingeführte Doppelstundenmodell, da es doch den Tagesrhythmus im gebundenen Ganztag sehr entspannt. Die Sprachenlehrer beklagen sich allerdings, dass ihnen durch die Doppelstunden die Stunden zu weit auseinander liegen.

  10. Ich lebe in einem Traumland, nämlich in einem niedersächsischen Gymnasium, wo dieses Thema überhaupt keine(?) Rolle spielt. Halbtagsblog spricht über Kinder mit Glasknochen, die intellektuell natürlich dem Unterricht folgen können. Ich hatte allenfalls mit Hörgeschädigten zu tun und wusste den Einsatz von Menschen wie Kreideweiss zu schätzen – allein die Ratschläge (Vorhänge, Teppichboden) waren bestimmt sehr sinnvoll, aber nunja – ihr wisst bestimmt um die Problematik. Das mit den Körperbehinderungen bekommt man in den Griff. Das kostet Geld, Nerven und etwas Bereitschaft, Strukturen zu überdenken. Ein Förderschullehrerin aus meinem Bekanntenkreis sagte für mich ziemlich schockierend: „Rollifahrer? Was ist daran jetzt inklusiv?“
    Jetzt stelle ich mir Dinge wie (s)elektiven Mutismus vor. Oder Tourette – oder spastische Lähmung, eben Formen menschlicher Diversität, die ich aus meinem direkten Umfeld kenne, und die erhebliches Wissen erfordern. Und ich stelle mir das in einer Klasse mit 30 Menschen vor. Ich würde an meinen eigenen Ansprüchen, möglichst vielen mir anvertrauten Menschen gerecht zu werden, innerhalb eines halben Jahres zerschellen.
    In dieser Form ist das vordergründig ein Sparprogramm – langfristig dürfte es teuer werden, sehr teuer.

    • Ich würde an meinen eigenen Ansprüchen, möglichst vielen mir anvertrauten Menschen gerecht zu werden, innerhalb eines halben Jahres zerschellen.

      Und wenn nicht nach einem halben Jahr, so doch nach einiger, überschaubarer Zeit. Und dann sind da noch die ganzen anderen Aspekte: Referendare (wie bilde ich die in inklusiven Klassen aus?), die unvermeidliche Bürokratie und zerpflückte Klassengemeinschaften, weil die Inklusionsschüler auch teilweise am Unterricht nicht teilnehmen müssen, früher gehen können etc.

      Es wird teuer werden. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Versuchsanordnung lange aufrecht erhalten werden kann. Aber solange nicht alle Schulen betroffen sind, kann die feine Gesellschaft ihre Kinder auf die nicht Inklusionsschulen schicken. Stört am Stadtrand ja nicht… 🙁

    • Und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Versuchsanordnung lange aufrecht erhalten werden kann.

      Solange bis die Förderschulen ausgeblutet und deren Strukturen zerstört sind. Die Erhöhung der Mindestschülerzahlen zeigt recht deutlich, dass die politisch gewollt verschwinden sollen. Danach gibt es dann kein zurück mehr.

  11. Pingback: Das Zauberwort heisst Inklusion | Sinatschka, was soll ich werden?

  12. Ich kann die Panik gerade nicht nachvollziehen.

    Dass Inklusion kommen wird ist keine Neuigkeit sondern alter Kaffee. Die Vorbereitung darauf hätte in den letzten Jahren stattfinden können und wurde auch von den meisten Schulformen unseres Schulsystems betrieben…

    An meiner aktuellen Schule wurden rechtzeitig Raumstrukturen überdacht, die den Unterricht im Klassenverband und die Förderung einzelner Schülergruppen bzw. das individuelle Lernen begünstigen.
    Unterrichtsmodelle, die die veränderte Lerngruppenstruktur auffangen, wenn mal kein Sonderpädagoge im Unterricht ist, wurden entwickelt und werden erfolgreich durchgesetzt.
    Wir sind mit der Inlusion im 4. Jahr und es funktioniert gut.
    Natürlich habe auch ich Kollegen an der Schule, die die Inklusion nach wie vor kritisch beäugen und darum bitten nicht in den inklusiven Klassen eingesetzt zu werden – aber das ist die Ausnahme.

    Ich habe meine Ausbildung an einer Hauptschule gemacht, in der seit Jahren jede Klasse eine inklusive Klasse ist. Und es funktioniert dort, obwohl die Schülerschaft auch ohne die Kinder mit diversen Förderschwerpunkten eine wahre Herausforderung ist.
    Allein schon diesen Schulen gegenüber wäre es mehr als unfair, wenn sich elitäre Gymnasien von der Inklusion ausnehmen dürften.

    Natürlich müssen wir uns als Regelschullehrer darauf einstellen nicht mehr alleine und unbeobachtet im Klassenraum zu sein. Und natürlich müssen wir unsere Arbeit anders organisieren, wenn wir mit einem Kollegen zusammen planen und weiter im Vorfeld den Unterricht absprechen. Aber das sind kleine Zugeständnisse für die positive Entwicklung, die das Schulsystem mit dem Schritt der Inklusion meiner Meinung nach geht.

    Ich empfinde den Austausch mit den Sonderpädagogen als sehr fruchtbar und hilfreich für meinen Unterricht und auch für meine persönliche Entwicklung als Lehrerin. Nicht nur ausgewiesene Schüler mit Förderbedarf profitieren von einer anderen Herangehensweise an Unterrichtsinhalte.

    Natürlich gibt es nach wie vor Kinder, die in einem großen Schulsystem wie der Gesamtschule heillos überfordert sind. Und ich halte es nicht für sinnvoll jedes Kind in das Schema Inklusion zu pressen. Aber meiner Meinung nach gibt es Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen, die von Unterricht in einer leistungsstärkeren Lerngruppe profitieren.
    Gerade das Gymnasium sehe ich als einen idealen Ort für Schüler mit dem Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung. Diese Schüler gliedern sich an unserer gut organisierten und strikten Gesamtschule viel besser ein und profitieren viel mehr von ihren Mitschülern, als sie das an meiner Hauptschule getan haben, an der auch die Schüler ohne Förderbedarf Tische aus dem Fenster geworfen haben.

    Es gibt so viele Schulen, an denen Inklusion bereits gelingt (ich denke da vor allem an die Grundschulen) und noch viel mehr Schulen, die jeden Tag ein bisschen dazu lernen und auf einem wirklich guten Weg zur Inklusion sind.
    Warum sich ausgerechnet die Gymnasien herausnehmen wollen, kann ich nicht verstehen. Zieldifferentes Unterrichten ist für die Lehrkräfte dort auch nicht schwieriger als an allen anderen Schulformen.

    • Zieldifferentes Unterrichten ist für die Lehrkräfte dort auch nicht schwieriger als an allen anderen Schulformen.
      Doch, ist es – und zwar aus mehreren Gründen (hier nur Auswahl):

      (1) Gebäude / Ausstattung macht zieldifferentes Arbeiten schwieriger
      „Altehrwürdige“ Gymnasien finden sich (meiner eigenen Anschauung nach) eher in „altehrwürdigen“ Gebäuden – und haben deshalb viel zu oft kleinere Klassenräume (wenn die letzte Schülerreihe mit dem Rücken an der Wand anschlägt, schafft man wesentlich schwieriger Lerninseln, hat keinen Platz für Regale mit Differenzierungsmaterialien o.ä.). In unserem Gymnasium (inklusiv erfahren seit vielen Jahren mit verschiedenen Förderschwerpunkten) gibt es genau einen Raum, der so eingerichtet ist (so eingerichtet werden konnte…), dass direkt nebenan ein Differenzierungsraum (unser einziger… – obwohl wir eine ganze Reihe von „I-Klassen“ haben…) ist. In dem Raum wurde dann eine „Insel“ geschaffen, um lebenspraktischen Unterricht erteilen zu können. Meines Wissens haben „Nicht-Gymnasien“ wesentlich häufiger Küchen, Handarbeits- und Werkräume (weil dort reguläres Unterrichtsfach), um einen solchen lebenspraktischen Unterricht zu ermöglichen.

      (2) „Kompliziertere“ Lerninhalte machen zieldifferentes Arbeiten schwieriger
      Ein Unterschied besteht bereits zwischen den „regulären“ Schulformen. An einer Hauptschule werden weniger (bitte nicht missverstehen) „anspruchsvolle“ Lerninhalte vermittelt als am Gymnasium. Der Unterschied im Lernstoff wird umso größer, je weiter man sich von den „einfacheren“ Schulformen entfernt – und je weiter die Schuljahre voranschreiten. So kann der Anfangsunterricht Englisch vielleicht noch für alle ähnlich gestaltet werden – aber wenn in der 10. Klasse Romane in der Originalversion gelesen werden und dazu Aufsätze wie im Deutschunterricht geschrieben werden, ist dies garantiert nicht mehr zu leisten von Schülern, die schon im Deutschen kaum ganze Sätze formulieren können (und nein, das ist nicht das extremste Beispiel aus der eigenen Anschauung, das ich liefern könnte).

      In dem Zusammenhang auch interessant: An einer Hauptschule oder IGS (o.ä.) können Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen (gerade, wenn man ihnen vielleicht ein Jahr mehr Zeit gibt) oft genug den regulären Hauptschulabschluss erwerben (es kommt durchaus vor, dass im letzten Schuljahr der Förderstatus aufgehoben wird, so dass dann eben nicht nur ein Abgangszeugnis der Förderschule o.ä. erworben wird). So lässt sich am Gymnasium nicht differenzieren. Der Erwerb des Hauptschulabschlusses ist im Allgemeinen nicht vorgesehen, würde man den Förderstatus eine I-Schülers in der 9. oder 10. Klasse des Gymnasiums aufheben, wäre diesem damit doch sehr wenig geholfen… (erläutern muss ich das hoffentlich nicht).

      Das alles hat nichts mit „elitärem“ Gymnasialdenken zu tun. An den Gymnasien läuft bereits sehr viel an Inklusion, egal mit welchem Förderschwerpunkt. Aber genau aus der Erfahrung heraus ist auch klar geworden, dass die zieldifferente Beschulung am Gymnasium sowohl für die (inkludierten) Schüler als auch die Lehrkräfte problematischer sein kann als an anderen Schulformen.
      Wie gesagt, bei uns gibt es das schon seit Jahren – aber eben mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg (Erfolg sehe ich hier sehr relativ je nach Bedürfnissen der Schüler (manch einer hätte z.B. vielleicht bei besserer Förder-Ausstattung es doch gelernt, seinen Namen zu schreiben oder Treppen zu steigen oder selbstständig die Toilette aufzusuchen oder …).

  13. Heute gibt es einen interessanten Artikel in der ZEIT, der sich recht differenziert mit Inklusive beschäftigt.

    Er bestätigt meine Beobachtungen im Kollegium. Die Inflexiblen wollen das nicht. Die wollen im Klassenzimmer unbeobachtet vor sich hin agieren. Die wollen einfach ihren alten Stiefel weiter stiefeln.
    Wie oben schon angesprochen wurde, ist, wer nicht fähig ist, die normale Doppelstunde konsequent und ordentlich umzusetzen, auch mit der moderatesten Form der Inklusion überfordert.

    Wenn es Länder mit bis zu 80% Inklusion gibt, wieso bekommen wir dann nicht einmal 20% hin?

    • Ja, das ist immer die einfachste Formel: Wer nicht bei allem mitzieht, ist eben inflexibel. Mit solchen Totschlagargumenten kriegt man alles durch, darauf verlässt man sich in der Politik offensichtlich auch: Es werde sich schon alles „zurechtruckeln“, ließ man uns in der entsprechenden Ausschusssitzung wissen.

      Ich empfehle die oben verlinkte Präsentation von Lisa Rosa, welche sehr schön zeigt, woran es bei der Inklusion in dieser Form krankt.

  14. Pingback: Petition zum Erhalt der Förderschulen | Kreide fressen

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