Eine Klischeekaskade

In Bayern wird aktuell durch die CSU einmal mehr die Idee aufgeworfen, bayerischen Lehrern eine Präsenzpflicht an Schulen vorzuschreiben. Nikolaus Neumaier, Leiter der Redaktion Landespolitik, versucht es in einem Kommentar beim Radiosender „Bayern 2“ einmal mit Provokation:

Mach‘ einen Vorschlag, der von Lehrern etwas mehr Engagement fordert, und du wirst Sturm ernten.

Und dann bricht gleich eine ganze Lehrerklischeekaskade aus Neumaier heraus; eine nahezu vollständige Liste an Vorurteilen, die man so seit Jahrzehnten gegenüber Lehrern auffährt. Erster Punkt: Lehrer haben zu viel Freizeit und verbrauchen zu viel Platz an Badeseen und auf den Tennisplätzen! (Heute ist seit Weihnachten das erste Wochenende, an dem ich einmal  keine Korrektur zu erledigen habe und tatsächlich meinen Stehtisch Stehtisch sein lasse. Dafür sitze ich an meinem Schreibtisch, weil ich weiß, dass ich dieses Wochenende nicht viel sitzen muss. Ob den bayerischen Lehrern an ihren Präsenzarbeitsplätzen Stehtische angeboten werden, wenn sie Rückenprobleme haben?)

Dann konstruiert Neumaier einen Alterskonflikt: Schuld seien die Alten, die sich in ihrem Kuschelkokon so schön eingenistet haben, und er fantasiert von Junglehrern, die an Ganztagsschulen viel entspannter arbeiteten, weil man dann ja alle Probleme hintern den Schulmauern ließe. Ich kenne meinen Ganztags-Alltag sehr genau und weiß, dass ich auch nach meiner häuslichen Ankunft um 16.00 Uhr die Stunden des kommenden Tages vorzubereiten, Korrekturen vorzunehmen (was ich meist nicht schaffe, weshalb ich sie aufs Wochenende schiebe) und Organisatorisches nachzuarbeiten habe. Vor 20.00 Uhr bin ich meist nicht fertig (aber das wäre gewiss ganz anders, wenn ich noch vier Stunden in der Schule säße und mit den Kollegen quatschen könnte…).

Für eine Verlängerung der schützenden Schulmauern sorgen Telefon und E-Mail: Elterngespräche finden meist nach 18.00 Uhr statt, denn wie Herr Neumaier richtig bemerkt, arbeiten viele Eltern bis abends und 90% aller Elterngespräche finden logischerweise erst dann statt, wenn die Eltern wieder zuhause sind. Ein Präsenzpflicht müsste für viele Eltern weit bis nach 18.00 Uhr gehen, sollte das Ziel Neumaiers, dass der „Herr Deutschlehrer“ und die „Frau Lateinlehrerin“ auch nach der Arbeitszeit erreichbar sind, erfüllt werden können. Überdies: Bekommen die bayerischen Kollegen dann alle ein eigenes Diensttelefon oder müssen sie sich um das Schultelefon prügeln? Oder sollen die Eltern für jede Lappalie gleich direkt in die Schule kommen? Da wäre ich ja mal sehr gespannt, wie lange die das mitmachen.

Auch beim Aspekt Arbeitsplatz bleibt Neumaier eher wolkig. Naja, irgendwie wird’s schon ein Plätzchen geben, vielleicht baut man ein wenig aus… und dann gibt es ja noch die Klassenräume! Die ersetzen ein effizient eingerichtetes Arbeitszimmer mit Computer, Audiogeräten, WLAN-Verbindung und Scanner sowie Drucker nebst einigen Bücherregalen und Ordnersammlungen gewiss sehr gut! Das wäre für die Schüler eine Freude, mal die Klassenarbeitssammlung der „Frau Lateinlehrerin“ zu durchwühlen oder die Klassenarbeitsergebnisse der anderen Mitschüler zu durchforsten. (Und wenn Lehrer die Räume auch noch selber putzten, würde das darüber hinaus noch eine Stange Geld sparen, Herr Neumaier, denken Sie mal drüber nach!)

Ich kann mir nicht helfen, aber Menschen wie Neumaier scheinen es Lehern schlichtweg zu missgönnen, dass eine gute Hälfte der realen Arbeitszeit am heimischen Schreibtisch stattfindet. Es scheint auch bar ihrer Vorstellungskraft, dass andere Menschen dort richtig arbeiten. Rationale Argumente für eine Präsenzpflicht gibt es schlichtweg keine. Lehrer sind über die modernen Kommunikationsmedien für Eltern besser erreichbar denn je, der Ganztag findet de facto schon statt und eine effiziente heimische Arbeitsumgebung sollte nicht durch eine vielfach veraltete und dysfunktionale ersetzt werden. Was für eine hemmungslose Schnapsidee!

8 Gedanken zu „Eine Klischeekaskade

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  2. Eine überzeugende Darlegung!
    Vor allem die Korrekturen sind für Lehrer mit einer korrekturlastigen Fächerkombination am Präsenzarbeitsplatz nur völlig unzureichend zu leisten. Deshalb reichten dann drei Wochenenden pro Monat für die häusliche Korrektur nicht mehr aus.

  3. Ich sage nur „Danke“ für die Geistesklarheit dieses Textes und füge den Vorschlag hinzu, dass für den Fall einer eintretenden Präsenzpflicht alle Lehrer ihre Korrekturen zuhause verweigern sollten. Das wäre bestimmt lustig, oder?

  4. Jetzt nur mal so dahin gefragt:
    1. Es gibt ja, mit dem G8 und der Tendenz zum Ganztag, für unsere SuS schon eine Präsenzpflicht von 8 bis ca. 16 Uhr. Wie ist deren Präsenzpflicht einzuordnen? Können diese vor einem solchen Hintergrund überhaupt effektiv lernen? Gute Prüfungen schreiben in einem Verband mit 25 weiteren SuS? Müssten wir nicht hier schon etwas ändern?

    2. Wäre vielleicht eine andere Form von Schule nötig, um eine Präsenzpflicht als Fortschritt im schulischen Kontext erleben zu können und nicht als Belastung?

    3. Könnten wir Druck aus der aktuellen Beschulungsform nehmen, wenn wir in der Mittelstufe eine komplett andere Form des ‚Unterrichtens‘ einführten? Ohne Noten, ohne klassische Formen der Betestung? Dann würde sich vielleicht auch die Korrekturzeit minimieren?

    4. Wenn Schule in einem vernünftigen Kontext stattfindet, so meine Erfahrung, dann sind Elterngespräche nach 16 Uhr nicht nötig, abgesehen von den üblichen Elternsprechtagen.

    5. Es gibt genug ‚korrekturfreie‘ Fächer, die ohne weiteres mit einer Präsenzpflicht zu verknüpfen wären. Für Korrekturfächer könnte man eine flexible Lösung finden, Korrekturzimmer einrichten und vielleicht mit innovativen Selbstkorrekturkonzepten experimentieren. (Das wurde an unserer Schule in Deutsch schon effektiv getestet)

    6. Eine Präsenzpflicht würde vielleicht zu einer neuen Form des fächerübergreifenden und damit auch korrekturreduzierenden Unterrichtens führen? Schluss mit dem altbackenen „Ich kann nur hinter geschlossenen Türen für mich allein unterrichten und erfinde täglich das Rad neu.“-Unterricht?

    • Herzlichen Dank für die schönen Denkanstöße.

      Zu Punkt 1+2. Das sind ja, wenn ich richtig verstehe, rhetorische Fragen. Und ja, ich finde auch, dass eine Schule, die viel Präsenz erfordert, eine andere Schule sein sollte, nein, muss. Das elende Buzzword „Lebensraum Schule“ sollte viel mehr eingefordert und umgesetzt werden.

      3. Schlichtweg politisch und gesellschaftlich nicht gewollt. Ich wäre sofort dabei.

      Bei 4. bin ich nicht überzeugt, denn Probleme resultieren ja nicht nur aus Leistungsschwierigkeiten, sondern oftmals einfach daraus, dass unterschiedliche Menschen aufeinanderprallen. Solche Gespräche bleiben uns erhalten, wenn wir unseren pädagogischen Arbeitsauftrag ernst nehmen.

      5. Wir haben ein Korrekturzimmer und es ändert recht wenig daran, dass ich weiterhin zuhause arbeiten muss. Auch während offener Unterrichtsphasen (in der Uni als die Möglichkeit präsentiert, um nebenher korrigieren zu können… *lol*) renne ich wie bekloppt durch die weit gemachten Räume…

      6. Wieso das?

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