Vom „digital naive“ zum neuen Bürger?

Evgeny Morozov stellt im Interview mit der FAZ dar, warum er eine Historisierung der Entwicklung des Internets für wichtig hält, warum er lieber von „Digitalität“ statt vom „Internet“ spricht und was das alles mit einer möglichen Zukunft zu tun hat (via @schb).

Wenn ich die Debatte historisiere, kann ich Wege entdecken, wie das Internet ganz anders hätte aufgebaut werden können. Es ging nicht um Demokratie und Zugang. Unternehmen haben für uns definiert, wie die Infrastruktur intellektuell und technologisch aussehen sollte. Die Öffentlichkeit hat das akzeptiert und muss nun die Konsequenzen tragen. (FAZ)

Die Vermessung des Menschen

Sehr lesenswert, vielleicht auch, weil es ein wenig deutlich macht, wie wichtig es ist, sich Gedanken um diese digitale Welt um uns herum zu machen. Die Kolleginnen schauten mich letztens wie einen Marsmenschen an, als ich zum Ausdruck brachte, dass ich mir sehr wünschen würde, dass eine Partei wie die Piraten im Parlament derartige Themen auf den Tisch bringen würde. Naja, so denkt der langhaarige Nerd eben, will ’ne Computerspielepartei im Parlament, ein Internetfreak halt, dabei gibt es doch Seriöseres, mögen sie sich gedacht haben. Dabei hat uns die Digitalität schon längst im Griff.

„Präemptives Regieren“, wie so plastisch im Film „Minority Report“ dargestellt, gibt es schon und findet Ausdruck in grausamen Morden durch amerikanische Drohnen. Doch nicht nur Regierungen (und ich spare mir jetzt Ausflüge zu Prism, Tempora und NSA sowie GHCQ) nutzen die neuen Möglichkeiten von Big Data: Eine hemmungslose digitale Vermessung ist in den Bereichen Gesundheit und Finanzen schon lange im Gange. Und es geht weiter: Mit der neuen Xbox stellen sich die Käufer ein Gerät in ihre Kinderstuben und Wohnzimmer, das ganz unverhohlen einräumt, seine Benutzer abzufilmen und die Ergebnisse auszuwerten. Auch das Fernsehverhalten wird komplett überwacht, die Televisoren Orwells sind nicht mehr weit entfernt. Ranga Yogeshwars Befürchtung, dass Kameras anhand der Reaktion der Pupille erkennen können, welche Stelle im E-Book ihn anspricht, ist technisch keine Utopie mehr, wie viele beim Lesen des Erfahrungsberichts gedacht haben mögen.
Dass Facebook die – vermutlich aus gutem Grund – privat geschalteten Profile seiner Nutzer vor wenigen Wochen leichtfertig alle öffentlich geschaltet hat, zeigt einmal mehr, wie wenig Bedeutung der einzelne Nutzer im Rahmen von Big Data hat. Und wohin entwickelt sich dieses Datenungetüm, wenn immer mehr „smarte“ Gegenstände, von Handys über Navigationsgeräte und Uhren bis hin zu Kühlschränken, unsere Lebenswelt bestimmen?

Digitale Bürger

Morozov wünscht sich „Konsumenten […], die sich jedes Mal in Bürger verwandeln, wenn sie Daten preisgeben müssen“. In einem anderen Artikel „Ideologie des Datenkonsums: Der Preis der Heuchelei“ fordert er:

„Digitale Themen müssen Sache der Mainstreampolitik werden, wir dürfen sie nicht allein den Piratenparteien oder ihren Nachfolgern überlassen. Wir können das Internet nicht mehr in der Art eines Ressorts wie etwa „Wirtschaft“ oder „Umwelt“ behandeln und hoffen, dass sich dort Sachkompetenz herausbildet. Konkrete Themen wie „Privatsphäre“ oder „Subjektivität“ müssen diskutiert werden. Ein so hehres Ziel wie „Internetfreiheit“ können wir vergessen – es ist eine Illusion, der hinterherzulaufen sich nicht lohnt. Wir müssen vielmehr Umgebungen schaffen, in denen die reale Freiheit weiterhin gehegt und gepflegt wird.“

Darin stimme ich Morozov von ganzem Herzen zu.

Aufklärung für „digital naives“

Und wir stehen als Lehrer mittendrin in dieser Entwicklung. Doch was ist uns wichtig? Sollten wir uns wirklich so laut aufregen über den lächerlichen Versuch von behördlichen Facebook-Regulierungen, und sollen wir in unserem schulischen Medienmangelbewusstsein die digitalen Medien weiterhin so heillos überhöhen – oder sollten wir unseren Schülern nicht vermitteln, wie heikel und riskant diese bunte, hübsch bewegte digitale Wirklichkeit auch sein kann? Wollen wir die als „digital natives“ überhöhten „digital naives“ sehenden Auges ins offene Messer laufen lassen und sie in der Illusion belassen, eine andere digitale Welt abseits von Facebook und Google sei nicht möglich? Oder sollten wir vielleicht langsam anfangen, Digitalität und Demokratie zum Thema zu machen? Und ein anderes Internet zu denken versuchen?

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