Die Defizitsuchestärke

Oh Gott, es ist mal wieder so weit – die Melange auf Twitter changiert ja immer zwischen Genialismus und Wahnsinn. Manche Links, Diskussionen und Andeutungen können wirklich viel geben, andererseits strotzt Twitter auch vor pädagogischen Glückskekswahrheiten, die einen zur Verzweiflung treiben könnten.

Gerade eben:

Wenn Lehrer als erstes was zu Leserechtschreibschwächen u.ä. zum Kind erzählen, identifiziere auch eine Stärkenfindeschwäche beim Lehrer… (Playducation)

Würde auf Facebook viele „gefällt mir“s bekommen und bei Goolge gepluseinst werden, bis der Arzt kommt. Ist halt schön plakativ, Leserechtschreibschwäche ist ja irgendwie auch nicht so wichtig (es gibt ja Autokorrektur) und Lehrerbashing (zumindest das Bashing der bösen Lehrer, der unfähigen, unmodernen, nicht iPad-Lehrer, nicht Playducation-Lehrer) kommt immer gut. Wir sind gut, die anderen sind doof!

Stärkefindeschwäche
Ja, die attestiere ich mir. Die habe ich. Ich erinnere mich an die beiden Abiturienten, die in meinem Grundkurs saßen und nur das Nötigste gemacht haben. Das Allernötigste. Da fiel es mir wirklich schwer, Stärken auszumachen (abgesehen von beleidigenden „Trivialstärken“ – Welcher Schüler freut sich über ein „Prima! Du hast den ganzen letzten Absatz fehlerfrei geschrieben!“ oder „Fein, du hast dich in 90 Minuten zweimal beteiligt!“). Die beiden studieren jetzt Ingenieurswissenschaften, mit besonderen Stärken und Interessen in Mathe und Physik. Sorry, aber das erreichte meinen Horizont im Rahmen unseres Kurssystems einfach nicht. Auch dass es unter meinen Schülern einen gibt, der außergewöhnliche Fähigkeiten beim Speedskating hat oder einen, der Meisterstunden im Geigespielen nimmt, erfahre ich als Deutschlehrer in der Regel zufällig. Vielleicht sind mir da einige Twitterer aber auch weit voraus – dann bin ich für hilfreiche Tipps immer dankbar!

Elternsorgen
Gerade über den Hinweis auf die Rechtschreibschwäche habe ich mich geärgert, denn meiner Erfahrung nach sind insbesondere die Eltern sehr sensibel, was die Rechtschreibung ihrer Kinder anbelangt, denn die meisten können diesbezüglich die Fähigkeiten ihrer Kinder recht gut einschätzen. Da sitzen dann häufig Eltern, die sich (unnötig) große Sorgen um ihre Kinder machen und nicht selten sind es die Eltern, die auf mich zukommen und denen ich dann die Furcht nehmen muss, dass mit ihrem Kind irgendetwas nicht stimmt. Denn Eltern schätzen Rechtschreibung als etwas Triviales ein (schließlich beherrschen sie die ja) und tragen sich mit dem Ballast, ihr Kind sei schlichtweg zu dumm, um richtig zu schreiben. Wenn das Kind nach vier Jahren Grundschule immer noch „swimmen“ statt „schwimmen“ schreibt, dann haben Eltern gerade am Gymnasium Angst, dass ihr Kind schon an einer vermeintlich einfachen Grundfertigkeit scheitert. Und sie reagieren ausnahmslos verständnisvoll, wenn man ihnen vorschlägt, das Kind zu fördern.

Das Sprechen über Rechtschreibschwierigkeiten impliziert übrigens auch das Erkennen der Stärken der Kinder. Das Erste, was ich meinen Eltern bei einem Elternabend zum Rechtschreibförderunterricht erkläre, ist, dass ihre Kinder eben nicht dumm sind, sondern dass sie zumeist die Regeln logisch, nur eben nicht regelkonform anwenden. Es ist nämlich keineswegs dumm, „swimmen“ statt „schwimmen“ zu schreiben, wenn das bei Wörtern wie „springen“ oder „Stuhl“ doch auch funktioniert. Das erleichterte Durchatmen der Eltern kann man an dieser Stelle des Elternabends förmlich hören. Den Eltern ihre Sorgen nehmen, bedeutet auch, Druck von den Kindern zu nehmen, und dazu müssen Lehrer auch Schwächen ansprechen.

Gesprächsstrategien
Das getweetete „als erstes“ soll zeigen, wie gemein und defizitorientiert die bösen Lehrer sind, die sich quasi sofort und erbarmungslos auf die Schwächen ihrer arglosen Schutzbefohlenen stürzen. Ich verfahre tatsächlich in einigen Fällen so, dass ich Stärken gezielt erst am Schluss eines Elterngesprächs anspreche, um den Eltern zu zeigen, dass neben all den möglichen sozialen oder fächerbezogenen Problemlagen auch viel Positives zu finden ist. Das sorgt nämlich für einen positiveren und bestärkenderen Gesprächsausgang, als wenn ich den Eltern erst zum Schluss die Schwächen um die Ohren bolze. Was hilft’s, wenn ich all das Positive im Nachgang gleich wieder einreiße?

Also verschont mich bitte mit eurem vielleicht nett gemeinten, aber doch letztlich nur auf „Favs“, „+1“ oder „gefällt mir“ abzielenden Schmonz. Er zeigt letztlich nichts weiter als eine Defizitsuchestärke bei Lehrern. Hilfreiche Tweets zum Thema „Stärken herausstellen“ stelle ich mir eher so vor. Dank dafür an Herrn Larbig.

2 Gedanken zu „Die Defizitsuchestärke

  1. Und komischerweise möchte ich ergänzen, dass es mir viel öfter passiert, dass mir die Eltern zuerst mit den Defiziten kommen: „Grüß Gott, ich bin die Mutter von Peter. Er hat Legasthenie / ADHS / Dyskalkulie…“ Alternativ mit dem Hinweis, dass sie „auch schon nie Aufsätze schreiben konnten.“

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