Vorurteile

Ich fahre jeden Morgen mit der S-Bahn zur Schule und auch wieder zurück. Das ist mitunter sehr lehrreich. Zuletzt verabreichte man mir eine Lektion in der Genese von Vorurteilen. Zufällig teilte ich den Viersitzer mit zwei Schülern der benachbarten Gesamtschule:

„Hey, hast Du eine Fünf in Mathe?“

„Ja und auch bekloppte Kopfnoten…“

„Ach, bei mir nicht so schlimm, ich hab‘ überall Zwei!“

„Pfff, Zwei kriegen ja alle. Und auf’m Gymnasium kriegen alle Eins!“

(Stumme Empörung)

Ich habe die jungen Herren nicht in ihrem bittren Irrglauben gelassen. Ob der geneigte BILD-Leser es jetzt glaubt oder nicht, ich wurde nicht zusammengeschlagen.

8 Gedanken zu „Vorurteile

  1. Den Vorschlag zu den Kopfnoten würde ich aber gerne unterstützen: Alle einfach eine 2, und gut ist. Valide sind die eh nicht… oder gibt es wirklich Schüler, die sich bei allen Lehrern im gleichen Maße präsentieren. Weg damit – die Gesellschaft war vor 50 (?) Jahren schonmal weiter, als sie die Kopfnoten genau aus diesem Grunde abgeschafft haben.

    F

  2. Auf die Gefahr hin, dass ich unbeliebt mache: Wieso sind Kopfnoten so schlecht? Wir in Bayern haben keine – außer den bekannte Mitarbeits- und Verhaltensnoten. Aber auch hier wird der Durchschnitt gebildet – und dass Schüler auf jeden Lehrer anders reagieren (und umgekehrt) ist ja logisch und gleicht sich damit wieder aus. Ich schreibe halt relativ lange Zeugnisbemerkungen – das könnte ich mir durch Kopfnoten eventuell sparen?

  3. Denkt eigentlich derjenige, der der zweifellos indiskutablen Bildzeitung unterstellt bei dem Schlagwort „Gesamtschule“ gleich an Prügel und Ähnliches zu denken- genauso? Oder haben sich da Vorurteile eingeschlichen?

  4. @Cindie
    In Sachen Bildzeitung hege und pflege ich zwar fleißig meine Vorurteile, aber hier ging es mir nicht um die Gesamtschule, in der ich ebenso gerne unterrichten werde (und auch schon habe) wie auf einem Gymnasium oder an anderen Schulformen, sondern alleine um das durch die Medien auf bedauernswerte Weise klassisch gewordene Setting: S-Bahn, zwei junge Männer und ein ungefragt sich einschaltender Dritter.

    Ich fand es sogar äußerst schade, dass Heide Simonis ihr Gesamtschulprojekt in Schleswig-Holstein nicht durchführen konnte, weil sie so unnötig aus dem fast sicheren Amt gemobbt wurde. Ein Bundesland ohne dreigliedriges Schulsystem hätte ich gerne beobachtet.

    @Markus
    Also ich bin in Bezug auf das Thema gerade hin- und hergerissen. Ich habe mich beim letzten Zeugnis „neutral“ verhalten und keine Kopfnoten vergeben, es also bei der Zwei belassen. Geärgert habe ich mich dafür immer dann, wenn ich gemerkt habe, dass ich dem ein oder anderen Schüler die Eins als positive Rückmeldung hätte geben müssen. Als positive Verstärkung finde ich Kopfnoten durchaus sinnvoll.

    Anders sehe ich es, wenn Kopfnoten in die andere Richtung vergeben werden, z.B. bei meinen Achtklässlern. Diese stecken gerade mitten in der Pubertät; die einen machen einen auf dicke Hose, die anderen reagieren eher sensibel und ziehen sich zurück. Und jetzt soll ich da den 90-Minuten-pro-Woche-Richter spielen und über Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten, Kooperationsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Selbstständigkeit urteilen? Auf welcher Basis eigentlich? Und wie messe ich das alles? Objektiv, reliabel und valide?

    Wie reagieren Schüler in einer sensiblen Lebensphase darauf, wenn sie als „unbefriedigend“ selbstständig oder konfliktfähig bezeichnet werden? Wohin treibe ich solche Schüler unter Umständen? Welches Selbstbild entwickeln die?

    Dazu kommt, dass ich nicht einmal annähernd ausreichend über die persönlichen Hintergründe informiert bin bzw. überhaupt sein kann. Jemanden als unbefriedigend konfliktfähig zu bezeichnen, der den ganzen Tag brüllende Eltern am Hals hat, wäre zynisch.

    Und inwiefern bin nicht auch ich „schuld“ am Verhalten meiner Schüler? Wird das auch berücksichtigt bei den Kopfnoten? Welche Rolle spielt dabei die Lage der Stunden im Stundenplan? Welche das Geschlecht?

    Ich finde, es ist schon schwer genug, „normale“ Noten gerecht zu geben, obwohl deren Messinstrumente weitaus ausgefeilter sind als die der Kopfnoten, die weitgehend aus dem Bauch heraus vergeben werden. Bei vorbildhaftem Verhalten fällt es mir leicht, eine Eins zu geben, im anderen Fall fällt es mir doch schwer.

  5. Gefallen haben mir die „Kopfnoten“, wie sie in der Grundschule meiner Tochter ausgestellt werden: Es gibt eine lange Liste von Kriterien (z.B. „verträgt sich gut mit Mitschülern“) und angekreuzt wird dann „immer“, „fast immer“ usw. Dies ergibt dann in der Gesamtheit schon ein differenziertes Bild. Ich glaube, dass selbst pubertierende Achtklässler mit so etwas umgehen können, besser jedenfalls als mit den Bemerkungen zum Lern- und Sozialverhalten, die wir mühsam miteinander an unserer Schule abstimmen.

  6. Ich stimme dir absolut zu – auf dem Hintergrund, dass ein Lehrer überwiegend Frontalunterricht macht und wenig Aktivierung rein bringt. Wir ernten, was wir säen – bitter manchmal und da sollten Kopfnoten für den Lehrer her.
    Aber wenn Projekte, Methodenwechsel und damit einhergehend eine gute Beobachtung der Schüler möglich ist und sie gewissenhaft gemacht wird, finde ich schon gerechtfertigt, dieses (Leistungs-)Verhalten zu bewerten. Aus dem Bauch heraus, um dem Schüler eines reinzuwürgen oder gute Noten um der eigenen Beliebtheit willen zu verteilen – das sollte in keinem Fall sein. In Bayern hat man übrigens zum Halbjahr die ausführlichen Wortgutachten der Schüler in der GS (Das waren fast zwei Seiten!) wieder fallen gelassen.

  7. > Und jetzt soll ich da den 90-Minuten-pro-Woche-Richter spielen und Ìber Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten, KooperationsfÀhigkeit, Leistungsbereitschaft, ZuverlÀssigkeit und SelbststÀndigkeit urteilen? Auf welcher Basis eigentlich? Und wie messe ich das alles? Objektiv, reliabel und valide?<
    Oh gut, danke fÌr diesen Beitrag! Ich stimme vollkommen zu. Die Kopfnoten-und Sozialverhaltensbeurteilungsfrage wird auch heiß diskutiert bei http://teacher.twoday.net/stories/4683476 und auch ich konnte mich nicht bremsen: http://lisarosa.twoday.net/stories/4633659/

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