Sommerliche Kopfnoten oder „Zurück in die Vergangenheit“.

Mit Kopfnoten ins Pädalithikum" hatte ich vor nicht allzu langer Zeit in einem Beitrag getitelt, und NRW-Schulministerin Barbara Sommer hat mich darin gestern nahezu wörtlich bestätigt. (…)

Dank des guten Internetauftritts des WDR kann man die gestrige Sendung heute schon im Netz verfolgen . Frau Sommer sagte, und heute zitiere ich wörtlich:

 „Es ehrt uns, zu sagen, das ist ein Rückfall in die 50er Jahre, weil da Werte noch etwas galten. Werte wie Leistung, wie Ausdauer und das holen wir wieder hervor." (HaF)

Um Himmels Willen. Hätte sie wenigstens den Rückfall in die 20er Jahre angekündigt, da war man nach Ansicht einiger Pädagogen nämlich schon um einiges weiter als 1950, wie man bei Herbert Gudjons nachlesen kann. Der schreibt über die Schulpolitik nach ´45 folgendes:

 „Die Chancen einer grundlegenden Neugestaltung des Schul- und Bildungswesens (…) wurde verpasst. Stattdessen wurde punktuell und ohne Konzept an Einzelheiten der Reformpädagogik angeknüpft. (…) Die 50er Jahre gelten allgemein als Epoche einer generellen Restauration (…), d.h. der Wiederherstellung traditioneller Bildungsstrukturen auf ganzer Linie." [1]

Frau Sommer versetzt NRW zurück in die pädagogische Steinzeit. Anstatt Probleme progressiv anzugehen, fischt sie alte Rezepte hinter dem angestaubten Kachelofen hervor, während andere Länder schon Fußbodenheizung haben, wie der Mann fürs Internationale, Herr Schleicher (Pisa), deutlich machte. Stichwort „Rückmeldung an Schüler und Eltern".

 „Rückmeldung" war in der gestrigen Sendung das Zauberwort. Eltern und Kinder würden sich über die Vergleichbarkeit der Noten freuen und fänden das gar nicht schlecht. Das Wettbewerbsprinzip wurde implizit angesprochen, die Kinder könnten sich ja toll vergleichen. Prinzipiell ist das auch richtig: Kinder können Ziffern besser vergleichen als kompliziertere Bewertungstexte. Aber ob zweimal die gleiche Note auch das Gleiche über zwei Kinder sagt, möchte ich schwer bezweifeln.

Dazu ein Zitat von dem Psychologen und vehementen Notenkritiker Karlheinz Ingenkamp:

"Lehrer sollten wissen, dass der Messfehler unseres Zensurensystems im allgemeinen +- einer Zensurstufe angenommen werden muss, dass also Schwankungen zwischen den Zensuren 2 und 4 allein durch die mangelnde Zuverlässigkeit dieses Beurteilungsverfahrens verursacht werden können." [2]

„Es macht uns die Arbeit leichter" – diese Aussage der Hauptschuldirektorin war in der Diskussion um Kopfnoten vielleicht die ehrlichste Aussage des ganzen Abends.

Der hervorragendste und einfühlsamste (oho – Kuschelalarm!) Kommentar kam vom Gastkommentator Thomas Schadt:

„Eine Einschätzung würde ich in einem kommunikativen Zusammenspiel zwischen Lehrern, Eltern und Schülern für sehr gewinnbringend halten. Aber eine Bewertung, wo ich auch bei `nem Jugendlichen wahnsinnig viel Angst erzeugen kann, nämlich zum Beispiel die Angst: Bin ich überhaupt gesellschaftsfähig? Sowas kann ja auch in eine innere Flucht führen, wo die Kinder dann verloren gehen." (Haf)

Das war das erste und letzte Mal in der gesamten Sendung, dass jemand ein entwicklungspsychologisches Problem im Themenkontext angerissen hat. Die offizielle Runde, gut bestückt mit hochdekorierten Pädagogen und Wissenschaftlern, hat diese Frage vollkommen ignoriert.

Wie sinnvoll ist es, wenn man Schülern in einer hochsensiblen Lebensphase, maßgeblich geprägt von Trotz gegen Autoritäten und persönlicher Unsicherheit, ungehobelte Kopfnoten vor den Latz knallt? Sie für „unbefriedigend" sozial erklärt? An solche empfindsamen Kinkerlitzchen hat in der gestrigen Sendung niemand gedacht, außer dem Dokumentarfilmer Schadt.[3]

Aber auch die praktische Dimension wurde vollkommen vernachlässigt: Ich möchte jeden Leser einmal bitten, sich in die Situation eines Lehrers vor einer 25-köpfigen Schulklasse zu versetzen. Es wird Unterricht gemacht, natürlich nach neuesten pädagogisch-didaktischen Erkenntnissen, gleichzeitig muss der Lehrer ein Auge auf die mündliche Leistung seiner Schüler haben, bitte schön qualitativ und quantitativ auseinanderdividiert, damit es nicht zu Ungerechtigkeiten kommt, und gleichzeitig noch das Sozialverhalten, aufgesplittet in sechs(!) zu bewertende Einzelfaktoren erheben? Wie soll er das auf eine gerechte und objektive Art und Weise leisten? Dass dabei am Ende ungerechter Murks herauskommt, ist in meinen Augen unvermeidlich.

Dazu kommt, dass die Kopfnote gemeinsam auf der Lehrerkonferenz beschlossen wird, also ein kleinster gemeinsamer Nenner der unterrichtenden Lehrer ist. Fächer, in denen der Schüler überdurchschnittlich hilfsbereit, ordentlich oder anderswie der vorgegebenen Norm entsprechend handelt, werden damit nivelliert. Ein weiterer Grund, der Aussagekraft („Rückmeldung") von Kopfnoten nach Kräften zu misstrauen. 

Leider ist dieser lange und dennoch hastige Beitrag viel zu kurz, um auf alle Punkt angemessen eingehen zu können. Ich belasse es zunächst bei dieser knappen Kritik an den Aussagen der Sendung, werde aber in den folgenden Wochen nachlegen und eine kleine Reihe zum Thema „Leistungsmessung und Notengebung" starten. Das ist für mich ganz interessant, zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema, und vielleicht ist es auch für den ein oder anderen Leser von Interesse, mit mir einen Blick hinter die pädagogischen Kulissen zu werfen und sich eine fundiertere Meinung zum in der Öffentlichkeit so unkritisch betrachteten Thema "Notengebung" zu bilden.


[1] Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen, Regensburg 2001, S.106.

[2] Ingenkamp, Karlheinz: Lehrbuch der pädagogischen Diagnostik, Weinheim 1988, S.40.

[3] Und wenn ich schon Fußnoten setze, dann auch zu einem Plädoyer für den empfindsamen Lehrer auf (bei?) Axonas.

2 Gedanken zu „Sommerliche Kopfnoten oder „Zurück in die Vergangenheit“.

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